Sturmsegel
Entschluss, dass sie das Angebot ihres vermeintlichen Vaters annehmen würde. Marte hatte recht, jeder brauchte einen Platz, besonders, wenn er noch so jung war wie sie. Und ein Handelskontor war wirklich kein schlechter Ort.
Es wird ja auch nur vorübergehend sein, sagte sich Anneke. Später, wenn der Krieg vorüber ist, werde ich mir eine Anstellung suchen und die Hütte reparieren lassen, damit es nicht mehr durchregnet.
Damit schloss sie die Augen und lauschte den Geräuschen der Hütte, bis der Schlaf sie in seine Arme nahm.
*
Obwohl sie in der Nacht unterwegs gewesen war, erwachte sie schon im Morgengrauen und fühlte sich keineswegs verschlafen. In ihrem Herzen rangen Trauer, Unruhe und Aufregung miteinander und vertrieben die Bettschwere aus ihren Gliedmaßen.
Was wird mir dieser Tag bringen?, fragte sie sich.
Das Geläut der Fünf-Uhr-Glocke tönte an ihr Ohr, und während sie sich wusch, dachte sie daran, was in der Stadt um diese Zeit vor sich ging. Die Tore wurden geöffnet, und all jene, die nicht von allein wach geworden waren, erhoben sich nun, um ihr Tagwerk zu beginnen. Fenster wurden geöffnet und Nachtgeschirre ausgeleert. Tauben verließen ihre Schläge, Katzen reckten sich gähnend vor den Fensterläden. Die Frauen kümmerten sich um die Kinder und bereiteten die Morgenmahlzeit zu. Die Männer begaben sich an die Arbeit. Auch im Kontor von Roland Martens hatte der Tag sicher schon begonnen.
Anneke zog das beste Kleid an, das sie besaß. Es war kornblumenblau und hatte ein hübsches Blumenmuster auf Rock und Mieder, das ihre Mutter selbst gestickt hatte. Anschließend flocht sie ihr Haar zu einem dicken Zopf.
In der Küche wurde sie von lautem Gackern begrüßt. Diesmal kündigte das Huhn keine Besucher an. Auf dem Boden des Käfigs lag ein Ei, dem das Gezeter galt.
»Sieh an, bist ja doch zu was nütze«, sagte sie und streute der Henne ein paar Körner hin. Das Ei schlug sie in die Pfanne und aß es zusammen mit dem letzten Stück Brot, das sie noch hatte.
Wenig später polterte eine Kutsche die Straße hinauf und hielt direkt vor ihrem Haus. Roland Martens stieg aus und trat durch die Gartenpforte.
Diesmal trug er ein dunkelblaues Wams mit silbernen Borten, ein rot gefütterter Mantel schwang um seine Schultern. Sein Haar war zu einem Zopf zusammengebunden und er trug keinen Hut. Er wirkte, als wollte er nach Rostock oder in eine andere große Stadt fahren.
Annekes Herz begann zu pochen, als sie zur Tür ging. Vor lauter Aufregung öffnete sie, bevor er anklopfen konnte.
»Guten Morgen, Anneke, wie ich sehe, hast du dich fein gemacht«, sagte er freundlich. »Hast du dich entschieden?«
Anneke bemerkte, dass seine Augen ein wenig verquollen und gerötet waren. Auch seine Nacht schien alles andere als leicht gewesen zu sein, immerhin hatte er zum zweiten Mal eine Frau an den Tod verloren.
»Ich komme mit Euch«, antwortete sie und beobachtete, wie ein freudiges Leuchten den Schatten in seinem Blick vertrieb. »Ich muss nur noch ein paar Sachen zusammensuchen.«
»Lass dir Zeit, ich warte hier.« Der Mann lehnte sich an den Türrahmen, verschränkte die Arme vor der Brust und zwinkerte ihr aufmunternd zu.
Viel zu packen hatte Anneke nicht. Vom Dachboden holte sie einen Kamm, aus dem schon zwei Zinken herausgebrochen waren, ein Gebetbuch und ein Stück Zedernholz, das die Motten von der Kleidung fernhalten sollte. Außerdem wanderten ihre Hemden, das schlechtere Kleid und die einzige Haube, die sie besaß, mit in das Bündel. Sie hatte sie nie gern getragen. Aber im Hause eines Kaufmanns würde eine Haube wohl verlangt werden, also nahm sie sie mit.
Viele Habseligkeiten hatte ihre Mutter nicht gehabt, wohl aber ein besticktes meerblaues Haarband, mit dem sie ihre Locken manchmal zusammengebunden hatte. Als sie krank wurde, hatte sie es nicht mehr anlegen können, und vor lauter Trauer um sie hatte Anneke nicht daran gedacht, dass die Totenfrau es ihr ins Haar hätte binden können.
Nun holte sie es aus der kleinen lackierten Schachtel, in der die Mutter es immer aufbewahrt hatte, und betrachtete es. Es war schon ziemlich alt und wirkte fast zu fein für eine einfache Frau. Hatte Roland Martens es ihr als Liebespfand geschenkt? Vielleicht ganz zu Anfang, als sie sich kennengelernt hatten?
Anneke gefiel dieser Gedanke und sie beschloss, das Band samt dem Schächtelchen mitzunehmen.
Als Letztes hob sie den Hühnerkäfig auf. Natürlich hätte sie das Tier der Nachbarin für eine
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