Sturmsegel
ihr Herzklopfen konnte auch daher rühren, dass sie noch nie einen so netten und hübschen Jungen getroffen hatte …
Das Läuten der Storkyrkan holte sie aus ihren Gedanken fort. »Ich muss zur Schenke zurück!«, sagte sie, und bevor sie recht überlegt hatte, was sie da tat, hatte sie ihm noch einen Kuss auf die Wange gedrückt.
Die letzten Schritte bis zur Schenke rannte Anneke, denn sie war sich darüber im Klaren, sich verspätet zu haben.
Zusammen mit Ingmar war Zeit bedeutungslos gewesen, doch jetzt hallten die Glockenschläge der Storkyrkan hinter ihr her wie die Stimme eines Sklaventreibers auf einer Galeere.
Rasch huschte sie zum hinteren Tor und lief dann über den Hof. Dabei wäre sie beinahe über eines der Schweine gestolpert, die sich dort suhlten, aber konnte sich im letzten Moment noch fangen.
Gitta erwartete sie bereits in der Küche. Anneke machte sich auf ein Donnerwetter gefasst und legte sich schnell eine Ausflucht zurecht, mit der sie ihre lange Abwesenheit erklären konnte. Doch anstatt böse auf sie zu sein, lächelte Gitta Anneke breit an. »Na, wie war dein Spaziergang?«
»Recht unterhaltsam«, antwortete das Mädchen und bemerkte, dass Kleidung und Haube der Magd nicht so tadellos saßen, wie sie sollten. Hatte sie sich inzwischen ein Weilchen hingelegt?
»Unterhaltsam, aha«, entgegnete die Magd wissend. »Dein Bursche scheint nicht gerade schüchtern zu sein. Und dann ist er auch noch der Sohn eines Schiffsbauers. Wer weiß, vielleicht heiratet er dich irgendwann einmal.«
Annekes Wangen wurden feuerrot. Nicht, weil diese Behauptung so unerhört war, sondern weil sie sich tatsächlich vorgestellt hatte, dass es so sein könnte.
»Du hast Glück, Magnus ist gerade noch einmal aus dem Haus gegangen. Ich werde ihm nicht verraten, dass du ein wenig über die Zeit geblieben bist.« Sie zwinkerte Anneke verschwörerisch zu.
»Danke, das ist sehr freundlich.«
»Und nun sieh zu, dass du in dein Arbeitskleid kommst. Es gibt viel zu tun am Sonntagabend.«
*
Die ganze Woche über fühlte Anneke sich, als würde sie auf Wolken gehen. Kein Humpen war zu schwer, kein Kessel zu verkrustet. Sie erledigte die Arbeit voller Elan und war oft sogar schon vor Gitta auf den Beinen, um das Feuer anzuheizen.
»Freust dich wohl schon auf nächsten Sonntag?«, bemerkte die Magd eines Tages schmunzelnd, als sie die Treppe herunterkam. Wieder war sie in der Nacht mit Magnus zusammen gewesen, doch in diesen Tagen war Anneke so voller Glück, dass es sie weder störte, dass Magnus nachts zu Gitta ging, noch dass Tjorven sie kaum mehr einen Moment aus den Augen ließ.
Allmählich lernte sie die Stammgäste der Schenke kennen. Der Spielmann wusste viele Geschichten über einige von ihnen, die er immer dann erzählte, wenn Anneke ihm seine Suppe servierte.
Da war zum Beispiel Sven, der vor seiner streitsüchtigen Ehefrau in die Schenke floh, was ihn allerdings nicht davor bewahrte, dass ihm seine Frau nachkam und ihn unter großem Spektakel nach Hause holte.
Björn, der Witwer, ging in die Schenke, weil er hoffte, über dem Bier seine Frau vergessen zu können. Böse Zungen behaupteten, dass er hoffte, im Goldenen Löffel eine neue Frau zu finden.
»Nimm dich in Acht vor ihm!«, warnte der Spielmann, der sich Hakan nannte. »Ehe du es dir versiehst, versucht er noch, dich zu heiraten.«
»Da kommt er wohl ein bisschen zu spät«, erwiderte Anneke augenzwinkernd.
»Hast du etwa einen Schatz?«, fragte Hakan und spielte den Beleidigten. »Und was ist mit mir?«
Das Mädchen lachte nur darüber und eilte schnell zum Tresen zurück, um weitere Humpen zu holen.
Am folgenden Sonntag fragte sie Gitta wieder, ob sie weggehen dürfte.
»Du kannst doch an deinem freien Sonntag tun, was du möchtest!«, antwortete die Magd lachend. »Geh hinaus und freue dich des Lebens. Niemand kann wissen, wie lange das Glück währt.«
Die letzten Worte wirkten etwas düster, aber Anneke bemerkte es in ihrem Glück kaum.
Am Sonntag, nach dem Kirchgang, schlüpfte sie wieder in ihr schönes Kleid und überlegte, wie sie ihr Haar tragen sollte. Im Hause ihres Vaters hatte ihr Sanne einmal die Haare hochgesteckt, was sehr damenhaft ausgesehen hatte.
Da sie allerdings keine Spangen oder Haarnadeln besaß, verwarf sie den Gedanken wieder und band ihr Haar mit dem Haarband zusammen, bevor sie es unter der Haube verschwinden ließ.
Gerade als Anneke die Schenke verlassen wollte, tauchte Tjorven in der Küche auf, so
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