Sturmsegel
über beide Ohren, als er Anneke sah. Auch ihre Wangen glühten und eine Weile standen sie sich gegenüber, als wüssten sie nicht, wie sie hierher gekommen waren.
»Wir sollten gehen«, sagte das Mädchen schließlich. »Gitta blickt sicher durchs Fenster und wartet, was wir jetzt tun werden.«
»Ist es ihr denn nicht recht, dass du gehst?«
»Doch, aber sie würde es bestimmt am liebsten sehen, wenn wir uns gleich küssen.«
Ingmars Gesichtsfarbe wurde noch einen Ton dunkler, dann bot er Anneke den Arm an.
Gemeinsam schlenderten sie den Hafenkai entlang, warfen einen kurzen Blick auf die Vasa und den fernen Schiffsbauhof und überquerten schließlich eine Brücke, die sie nach Norden führte.
Ingmars Familie wohnte auf dem Norrmalm, dem neuen nördlichen Stadtteil von Stockholm. Viele Schiffsbauer waren hier ansässig und es gab hier sehr schöne Häuser. Ein Kirchturm überragte sie alle und stach wie eine Nadel ins Himmelsblau.
»Das ist St. Jakob«, erklärte Ingmar, als sie seinem Elternhaus zustrebten. »Hier gehen wir sonntags immer zur Messe. Früher hatten wir näher am Schiffsbauhof gewohnt, aber jetzt, wo meine Mutter noch ein Kind erwartet, hat mein Vater dieses Haus gekauft.«
Anneke blickte zu der Fassade des zweistöckigen Gebäudes auf. Das Fachwerk wirkte noch recht neu. Die Steine zwischen den schwarzen Balken leuchteten rot wie die Abendsonne.
Da sie in der Schenke für den Eingang und die Schwelle zuständig war, sah Anneke natürlich genau hin, konnte aber nur feststellen, dass sie besonders sauber geschrubbt waren.
Eine rosafarbene Rose und ein schmales Band Efeu versuchten jeweils zu einer Seite der Tür die Wand zu erklimmen. Im Laufe der Zeit würden beide Pflanzen erstarken und schließlich um die Vorherrschaft ringen.
»Der Efeu ist mein Vater und die Rose meine Mutter«, erklärte Ingmar. »Jedenfalls stelle ich es mir so vor. Irgendwann werden die beiden Pflanzen zusammenwachsen.«
»Und dann gibt es Efeu mit Blüten«, entgegnete Anneke kichernd.
»Ja, das wäre doch schön, nicht?«
Bevor Anneke etwas darauf erwidern konnte, öffnete sich die Haustür und der Schiffsbauer trat ihnen entgegen. Offenbar hatte er mitbekommen, dass sie hier standen.
Heute, wo er keine lange Schürze trug und sein Haar ordentlich gekämmt war, wirkte er weitaus weniger furchteinflößend als damals auf der Werft.
»Wollt ihr reinkommen oder hier draußen Wurzeln schlagen?«, fragte er auf Deutsch.
»Reinkommen natürlich, Vater«, entgegnete Ingmar und deutete dann auf seine Begleiterin. »Das ist Anneke …«
»Martens«, vervollständige sie seinen Satz.
»Sie ist die Nichte von Frieda Bollerstrue.«
Zwischen den buschigen Augenbrauen des Vaters erschien eine Falte.
»Bollerstrue«, wiederholte er und es klang, als verbände er mit dem Namen nicht viel Gutes.
»Ich komme aus Stralsund«, setzte Anneke schnell hinzu. »Mein Vater ist dort Kaufmann und hat mich wegen der Belagerung hergeschickt. Bis vor einigen Wochen wusste ich nicht mal, dass ich eine Tante habe.«
Der Schiffsbauer lachte auf. »Bist anscheinend nicht auf den Mund gefallen. Dann komm rein, Mädchen, du bist uns willkommen.«
Anneke machte einen unbeholfenen Knicks und erklomm dann die Stufen. Ingmar folgte ihr. Sein Kopf war rot wie ein Backstein.
»Ingmar hat mir so einiges über dich erzählt. Besser gesagt, er redet ziemlich oft von dir.«
Anneke senkte verlegen den Kopf.
»Du kommst also aus Stralsund«, schnitt der Schiffsbauer ein anderes Thema an, denn er spürte, dass es ihr peinlich war, von Ingmars Begeisterung zu hören. »Wie hat es dort ausgesehen, bevor die Kaiserlichen kamen? Soweit ich weiß, habt ihr doch auch einen Hafen?«
»Ja, den haben wir«, antwortete Anneke und fühlte sich jetzt wieder etwas sicherer. »Als ich noch klein war, legten dort viele Handelsfahrer an. Aber in letzter Zeit kamen immer häufiger Kriegsschiffe mit Soldaten.«
»Die Truppen unserer gnädigen Majestät, nehme ich an.«
»Ja, und Soldaten des Dänenkönigs.«
»Deine Familie ist also in der Stadt zurückgeblieben?«
»Mein Vater«, antwortete Anneke. »Meine Mutter ist vor Kurzem gestorben.«
»Das tut mir leid«, gab Hendrick Svensson zurück. »Ich werde deinen Vater in meine Gebete einschließen. Unsere Majestät wird sicher bald dafür sorgen, dass die Truppen des Kaisers aus protestantischen Landen abziehen müssen.«
»Das hoffe ich.«
Der Schiffsbauer führte Anneke in die Stube des Hauses, wo
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