Sturmsegel
vielleicht, sie sei leichtfertig.
*
Viel zu früh kam die Zeit, Abschied vom Svensson-Haus zu nehmen, wie Anneke fand. Sie bedankte sich beim Hausherrn und seiner Gattin und Ingmar bot an, sie wieder zur Schenke zurückzubegleiten. Das war ihr freilich sehr recht.
»Deine Mutter scheint eine sehr gute Frau zu sein«, bemerkte Anneke, als sie über die Norrmalm-Brücke zurück auf die Stadtinsel schlenderten.
»Das ist sie. Es geschieht selten, dass sie ein schlechtes Wort über irgendwen verliert.«
Das glaubte Anneke gern. »Die Bemerkung über die Kogge war sehr schön. Nur denke ich, dass das Kind eher ein Passagier ist, der auf seine Ankunft wartet.«
»So kann man es auch sehen«, entgegnete Ingmar lachend. »Wollen wir hoffen, dass das Kleine nicht mehr lange auf sich warten lässt, sonst müssen wir Mutter demnächst mit einer Karre zum Gottesdienst schieben.«
Anneke lachte auf, verfiel daraufhin aber doch ein wenig in Schwermut, als sie an ihre eigene Mutter dachte. Wäre sie noch am Leben, wenn sie meinen Vater geheiratet hätte?, fragte sie sich.
Doch sie wollte diesen wunderbaren Nachmittag nicht von solchen Gedanken trüben lassen.
»Kannst du mir sagen, warum es hier am Abend nicht dunkel wird?«, fragte sie stattdessen. »Ich habe mich das schon die ganze Zeit gefragt.«
Ingmar blickte sie verwundert an. Er kannte offenbar gar nichts anderes als diese hellen Nächte.
»Bei uns ist es in der Nacht stets dunkel«, fügte Anneke rasch hinzu. »Aber hier finde ich manchmal keinen Schlaf, weil es so hell ist.«
»Man nennt das ›Weiße Nächte‹«, erklärte er und deutete auf die rot leuchtenden Wolken am Horizont. »Es gibt sie nur im Sommer. Wenn man weiter nach Norden fährt, sind die Nächte noch heller.«
»Und woran liegt das?«
»Die Seeleute meinen, dass die Sonne in unseren Breiten im Sommer nicht untergehen würde. Man müsste Astronom sein, um es richtig erklären zu können. Fest steht, dass mit Beginn des Frühlings die weißen Nächte beginnen, und wenn der Herbst einzieht, sinkt die Sonne so tief, dass weiter oben in Norrland oder Island selbst bei Tag kein Licht zu sehen ist.«
Anneke fand das faszinierend. Mit den Dingen, die Gelehrte taten, hatte sie sich noch nie beschäftigt, aber jetzt erwachte in ihr der Wissensdurst. Wozu hatte sie denn lesen gelernt, wenn sie diese Fähigkeit nicht nutzte? Die Bibel war nicht das einzige Buch auf der Welt. Vielleicht konnte ihr Ingmar ja irgendwann einmal ein Buch leihen.
»Wie lange wirst du hier in Stockholm bleiben?«, fragte Ingmar schließlich und blieb mitten auf der Brücke stehen. Unter ihnen schipperte ein Kahn entlang, der Mann am Steuer wirkte tief in seine Gedanken versunken.
Anneke seufzte und spürte das Heimweh nun noch stärker als zuvor.
»Ich fürchte, es wird noch eine Weile dauern. Ich glaube kaum, dass mein Vater demnächst kommen und mich holen wird. Soweit ich es vernommen habe, ist Wallenstein selbst nach Stralsund gekommen und hat die Stadt unter Beschuss genommen.«
»Wer sagt so was?«
»Leute auf der Straße und in der Schenke. Außerdem ist es fraglich, ob mich eine Nachricht von meinem Vater je erreicht. Er glaubt sicher, dass ich immer noch bei seiner Schwester bin. Wegen der Belagerung gehen keine Briefe nach Stralsund. Und selbst wenn es möglich wäre, hätte Frieda ihm sicher nicht geschrieben, dass ich ihr weggelaufen bin. Ich war ihr ja von Anfang an lästig.«
Ingmar sagte darauf nichts, doch in seinen Augen meinte sie zu erkennen, dass es ihm nicht recht wäre, wenn sie allzu bald nach Stralsund zurückkehrte.
»Mach dir keine Sorgen«, entgegnete er schließlich sanft und legte ihr die Hand auf den Arm.
Obwohl die Berührung so leicht wie die eines Schmetterlings war, durchströmte sie Anneke wie flüssiges Feuer.
»Eines Tages wird dieser Krieg vorbei sein. Du hast gehört, was Vater gesagt hat. Unser König Gustav Adolph wird die Kaiserlichen besiegen und auch Stralsund befreien. Vielleicht schon bald.«
Schon bald! Anneke wünschte sich so sehr, dass Marte, ihr Vater, Sanne und auch Nettel wieder frei wären. Dass sie keine Angst mehr haben mussten, auf die Straßen zu treten.
Doch gleichzeitig überkam sie ein wenig Besorgnis. Was würde aus Ingmar und ihr werden, wenn ihr Vater sie zurückholte?
Diese Frage verwarf sie gleich wieder. Konnte man Ingmar und sie denn in einem Atemzug nennen, als wären sie ein Paar?
Dass er freundlich zu ihr war, bedeutete doch noch nichts. Und
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