Sturmsegel
Ingmars Mutter sie bereits erwartete.
Der Raum war in etwa so groß wie die Stube des Martens-Hauses und auch ähnlich eingerichtet.
Oberhalb der Feuerstelle gab es aber ein Regal, auf dem zahlreiche Schiffsmodelle standen. Anneke erkannte Karacken und Koggen, Galeeren und Galeonen. Obwohl sie winzig klein waren, glichen sie, soweit sie es beurteilen konnte, den Originalen bis aufs letzte Tau.
Aber bevor sie sich in den Anblick der kleinen Wunderwerke vertiefen konnte, stellte sie der Hausherr seiner Gemahlin vor.
»Susanna, das ist Anneke Martens, das Mädchen, das unserem Sohn nicht mehr aus dem Kopf gehen will.«
»Freut mich, dich kennenzulernen«, sagte die Frau, die auf einer Holzbank unter dem Fenster saß. Das Haar, das sie fast vollständig unter einer bestickten Haube verbarg, war blond wie das von Anneke. Ihr Gesicht war recht blass und schmal, aber ihre Augen leuchteten wie die Ostsee, wenn die Sonne darauf schien.
Unter ihrem braunen Samtkleid, das mit Blütenranken bestickt war, wölbte sich ein dicker Bauch. Offenbar dauerte es nicht mehr lange, bis das Kind kam.
Als sie Annekes Lächeln erwiderte, glitt ein Leuchten über ihr Gesicht, als hätte ein Sonnenstrahl ihre Haut berührt.
»Komm, setz dich doch!« Die Frau klopfte auf den Platz neben sich.
Anneke fühlte sich trotz der Herzlichkeit, die ihr entgegengebracht wurde, ein wenig befangen. Sie wurde hier aufgenommen, als sei sie Ingmar bereits versprochen. Oder bildete sie sich das nur ein?
»Nun, erzähl mir doch, was die Tochter eines Kaufmanns auf unserer Werft zu suchen hatte«, fragte Hendrick Svensson, nachdem er und Ingmar ebenfalls Platz genommen hatten.
Diese Frage verwunderte Anneke ein wenig und sie fürchtete, er würde auf den Vorfall mit den Holzstämmen zurückkehren. Als er das nicht tat, antwortete sie: »Bei meiner Ankunft in Stockholm erblickte ich ein Schiff und einer der Matrosen erklärte mir, dass es die Vasa sei. Ich wollte dieses Schiff unbedingt sehen.«
Der Schiffsbauer lächelte milde. »Ja, die Vasa zieht die Menschen reihenweise in ihren Bann. Ob sie nun etwas vom Schiffsbau verstehen oder nicht, alle wollen die Vasa betrachten.«
»Sie ist wunderschön!«, gab Anneke zurück. »Das größte Schiff, das ich je gesehen habe.«
»Ist sie das?« Der Schiffsbauer lächelte so stolz, als hätte sie ihrer Frau ein Kompliment gemacht.
»Meine Freundin und ich haben früher immer am Strand bei Stralsund gestanden und die einlaufenden Schiffe beobachtet. Es war schön, die Segel zu betrachten und zu raten, welche Fracht die Schiffe bringen würden.«
Die Erinnerung an das leuchtende Segel ließ sie einen Moment innehalten. Anneke war sich nun mehr denn je sicher, dass es ein Unheilbote für Stralsund und sie selbst gewesen war.
»Aber ein solch großes Schiff wie die Vasa ist bei uns nie vor Anker gegangen.«
»Und es wird sicher auch nicht so bald ein vergleichbares Schiff geben. Die Vasa ist einzigartig, und wenn sie erst einmal auf See ist, wird es keinen Angreifer geben, der nicht vor Ehrfurcht vor ihr erstarrt.«
Daran zweifelte Anneke nicht.
Als wieder Schweigen in die Stube einkehrte, deutete sie auf das Regal, das ihr schon beim Hereinkommen aufgefallen war.
»Habt Ihr diese Modelle gebaut?«
Hendrick Svensson nickte.
»Ja, das habe ich. Ich schenke meiner Frau zu jedem Hochzeitstag eines dieser Schiffe. Es sind Abbilder der Schiffe, an denen ich mitgebaut habe.«
Anneke zählte sie rasch und kam auf siebzehn.
»Ich hoffe, du spielst mit dem letzten Schiff nicht darauf an, dass ich selbst eine voll beladene Kogge bin«, warf Susanna Svensson scherzhaft ein und strich über ihren Bauch.
Ihr Mann lachte schallend auf und rief dann nach der Magd, damit sie ihnen Getränke brachte.
Den ganzen Nachmittag redeten sie über Schiffe und Stralsund. Anneke musste berichten, wie die Nacht der beginnenden Belagerung ausgesehen hatte.
Das Mädchen erzählte ihnen, was sie wissen wollten, und war froh darüber, dass sie nicht nach Frieda Bollerstrue fragten.
Zwischendurch tauschte Anneke mit Ingmar verstohlene Blicke aus. Während sein Vater sehr wissbegierig war, verhielt er sich still. Einige Male ertappte sie ihn dabei, wie er sich an ihrem Haar festguckte. Das war ihr unangenehm und sie fragte sich, ob sie von ihrem ersten Lohn nicht doch lieber eine Haube kaufen sollte. In Stralsund hatte niemand was dabei gefunden, wenn sie ohne Haube durch die Straßen lief, doch hier glaubten die Leute
Weitere Kostenlose Bücher