Sturmwelten 01
gefährlich. Sie ahnen nichts. Diese Erkenntnis freute Sinao. Sie fühlte sich weniger hilflos als noch Augenblicke zuvor. Ihre Geheimnisse stärkten sie, gaben ihr einen Ort, den keine Blassnase erreichen konnte. Einen Ort der Macht, wie sie nun verstand, denn solange die Soldaten ahnungslos waren, hatten sie doch einen Vorteil.
Beschwingt von diesem Wissen, ging sie mit den anderen hinaus aus dem Fort. Sie blickte fest entschlossen auf ihre Füße, sah nicht auf zu den Balken, wo Hayuyas Leichnam sich noch im Wind bewegen würde. Tangye hatte Seile um den Leib und die Gliedmaßen schlingen und die Haut mit Pech einreiben lassen, damit es lange dauerte, bis seine Warnung hinabfiel. Jeder würde den Toten sehen, vom Lager aus war er gut zu erkennen. Sein Anblick allein würde den Willen mancher brechen und ihnen allen Mut aus den Herzen saugen. Aber nicht aus Sinaos Herz, auch wenn es Trauer um Hayuya in sich trug; Sinaos Herz war stark.
Die Wachen am Tor des Lagers waren ebenso gelangweilt wie jeden Tag. Auch sie beachteten die Küchensklaven kaum. Sinao nahm jedes Detail in sich auf. Die Musketen, die langen Dolche mit den seltsamen Griffen am Gürtel, die zurückgekämmten Haare, die hohen Stiefel. Dann wurde ihnen das Tor geöffnet, und sie betraten das Lager. Nach zweiunddreißig Schritt kamen sie exakt in der Mitte des Lagers an, und Sinao stellte den Korb ab und breitete die Decken aus. Neben ihr schlug Brizula mit der Kelle gegen den Kessel, doch die Arbeitssklaven brauchten keinen besonderen Ruf, um sich für ihr Essen zu versammeln. Einer nach dem anderen trat vor, hielt seine Schüssel hoch, bekam Eintopf und Brot und ging vorbei.
Mitten in der Gruppe stand Majagua, das Haupt hoch erhoben, und sah Sinao unverwandt an. Obwohl ihr Herz so heftig schlug, dass sie es bis in den Bauch hinab spürte, erwiderte sie seinen Blick scheinbar gelassen. Als er vor ihr stand, legte sie ihm sein Brot auf die Schale. Sie konnte das Feuer in ihrem Herzen auch in seinen Augen lodern sehen.
»Bebe, verteil bitte kurz für mich weiter«, bat sie leise und warf einen Blick über die Schulter zum Tor. Niemand beobachtete sie, und das Lagertor war verschlossen. Mit einem Nicken wandte sie sich ab und schritt hinter eine der Hütten, wo sie vor neugierigen Augen verborgen sein würden. Majagua folgte ihr, die Schale mit seinem Essen in der Hand. Als sie ihm gegenüberstand, wusste sie nichts zu sagen; all die sorgfältig überlegten Worte kamen ihr entweder hohl vor oder waren verschwunden, und so musterte sie ihn schweigend. Zwanzig, fünfundzwanzig Herzschläge lang standen sie sich so gegenüber, dann fragte er endlich: »Was hast du gemeint, gestern, als sie den alten Mann aufgehängt haben? Du hast gesagt, dass ich uns von hier fortbringen muss?«
»Ich habe das gemeint, was ich gesagt habe. Ich weiß, dass du über Flucht nachdenkst.«
»Ja.«
»Du hattest recht und ich unrecht«, erklärte Sinao leise. »Mir ist klar geworden, dass wir alle auf der Insel sterben werden, wenn wir nicht fliehen. Alle Sklaven hier sind Tote, alles ist Schmerz und Dunkelheit. Nichts kann schlimmer sein als dieses Schicksal.«
»Warum redest du jetzt so? Vorher hast du mir widersprochen und mich Schafsjunge genannt.«
Seine Miene war fragend, und sie sah Misstrauen in seinem Blick. Sie hatte ihn verspottet, hatte ihn vielleicht damit verletzt. Aber sie hatte das Feuer nicht gelöscht.
»Ich …« Sie rang um Worte. »Tangye hat uns allen den Mut genommen. Jeder sieht nur nach sich selbst. Die Küchensklaven lachen über die Arbeitssklaven, und ihr Feldsklaven lacht über die Minensklaven, und wer weiß, wer dort über wen lacht.«
»Ich lache nicht«, warf Majagua ernst ein.
»Nein. Du nicht. Vielleicht habe ich deshalb meine Meinung geändert.«
Er ballte die Hände zu Fäusten. Seine schlanken, schmutzigen Finger verkrampften sich so sehr, dass die Knöchel weiß hervortraten. »Ja. Wir werden fliehen. Es muss eine Möglichkeit geben«, erklärte er schließlich mit rauer Stimme. »Es muss einfach!«
»Wir müssen danach Ausschau halten. Die Schiffe sind groß genug für uns alle.«
»Sie böten genug Platz. Aber können wir so ein Schiff auch fahren? Das sind keine Kanus.«
»Frag im Lager«, bat Sinao. »Vielleicht gibt es welche, die solche Schiffe kennen, die schon auf ihnen gesegelt sind. Sonst müssen wir die Blassnasen dazu bringen, das Schiff zu fahren.«
»Gegen die Soldaten kann niemand kämpfen. Es sind viele, und
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