Sturmwelten 01
sie haben Musketen und Säbel und Kanonen. Sie können uns vom Fort aus einfach töten.«
»Zum Kampf darf es nicht kommen«, pflichtete ihm Sinao bei. »Aber die Blassnasen auf den Schiffen haben keine Waffen. Oder nur wenige. Vielleicht kann man sie überwältigen.«
»Wie viele mögen es wohl sein?«, sinnierte Majagua, und Sinao erwiderte: »Auf dem letzten Schiff waren es einunddreißig.«
Verwundert blickte ihr Gegenüber sie an. »Hast du sie gezählt?«
»Nein. Aber ich habe einunddreißig Blassnasen gesehen.«
»Das sind viel weniger als die Soldaten«, überlegte Majagua.
»Es sind siebenundvierzig Soldaten im Fort.«
Lachend schüttelte er den Kopf: »Du musst wachsame Augen haben. Es ist gut, dass du sie gezählt hast. Kannst du noch mehr herausfinden?«
Eigentlich wollte Sinao ihm widersprechen und ihm sagen, dass sie niemanden gezählt hatte, aber sie wusste, dass er sie nicht verstehen würde, wenn sie ihm sagte, dass sie ihre Zahlen kannte, wenn sie die Blassnasen nur ansah. Darin war Majagua wie alle anderen. Er würde nicht begreifen, dass sich die Zahlen ganz von allein in ihrem Kopf sammelten. Deshalb nickte sie nur.
»Wir müssen alles über die Soldaten und Aufseher wissen«, erklärte Majagua eifrig. »Was sie tun, wie sie es tun. Wann sie wo sind. Alles. Ich habe beobachtet, wie sie uns bewachen, wenn ein Schiff vor Anker liegt.«
»Finde heraus, ob jemand sich mit diesen Schiffen auskennt. Ich werde meine Augen und Ohren im Fort offen halten.«
»Gut.« Majagua zögerte einen Moment. »Es ist ein Glück, dass wir uns jeden Tag treffen«, fuhr er dann fort und schaute sie eindringlich an. »Ich bin froh, dass du zu mir gekommen bist. Wir können gemeinsam planen. Vielleicht haben die Ahnen dich gesandt, Sinao, damit wir uns gegenseitig helfen.«
»Vielleicht«, räumte Sinao ein. Vorsichtig streckte sie die Hand aus, als würde sie sich an seiner Haut verbrennen, doch als er sanft ihre Finger nahm, war es kein Schmerz, sondern Erleichterung, die durch sie hindurchfuhr. Sie war nicht mehr allein. Sie hatten sich gefunden, und gemeinsam würden sie ihr Los besser ertragen. Vielleicht konnten sie fliehen, vielleicht auch nicht, aber sie würden gemeinsam auf die Pfade treten, die vor ihnen lagen, und sie sah, dass er gleich empfand, denn er lächelte, als hätte seine Hoffnung endlich die Oberhand gewonnen.
JAQUENTO
Obwohl es auf dem Schiff ruhig war, verspürte Jaquento eine innere Unruhe, die ihn an Deck auf und ab laufen ließ. Es drängte ihn, Rahel zur Rede zu stellen, doch er konnte die richtigen Worte nicht über die Lippen bringen. Zu groß war seine Scham darüber, dass er das Gespräch zwischen ihr und Kapitän Pertiz belauscht hatte. In seiner Heimat galt Ansehen alles, und die Verfehlungen mochten noch so groß sein, solange sie nicht offen ausgesprochen wurden, galten sie nichts. Aber sie trieben ihn dennoch am Morgen an Deck, während die aufgehende Sonne wenig mehr als ein heller Streifen am Horizont war, vor dem die Masten der Wyrdem als schwarzer Umriss zu erkennen waren.
Heute würden die Anker gelichtet werden, und Jaquento fragte sich, auf welchem Schiff und an welchem Spill er wohl arbeiten würde, hier oder auf dem ehemaligen Sklavenschiff.
Die Echse bewegte sich schläfrig auf seiner Schulter. Seit dem Gefecht um die Wyrdem wich sie kaum noch von seiner Seite, als wolle sie ihn wie ein kleiner, geschuppter Leibwächter beschützen. Mit geschlossenen Augen rieb sie ihre Wange an Jaquentos Schulter und gähnte anschließend mit weit geöffnetem Maul.
»Kein Wunder, dass du die ganze Zeit frisst, bei so einem Mäulchen«, frotzelte Jaquento. »Pass auf, dass du nicht zu schwer für meine Schulter wirst, Kleiner. Oder Kleine?«
Beim Klang seiner Stimme öffnete sie ein Auge, starrte ihn kurz an, lehnte den Kopf dann aber wieder an.
»Du brauchst einen Namen. Aber ich weiß nicht einmal, ob du ein Er oder eine Sie bist. Oder wie man das bei deinesgleichen herausfindet.«
Diesmal reagierte die Echse gar nicht, sondern schlief einfach weiter. Oder sie ignorierte ihn geflissentlich.
In der Sturmwelt ging die Sonne ebenso schnell auf, wie sie verschwand, und innerhalb kürzester Zeit stand der Horizont in Flammen. Während ein leuchtendes Rot den Himmel erfüllte, erstrahlten die wenigen Wolken in einem glühenden Gelb. Unter dem Farbenspiel der Natur war Jaquento einsam, obwohl mehr als zweihundert Seelen auf dem Schiff waren. Irgendwo dort im Osten, viele
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