Sturmwelten 01
wickeln. Wie gebannt starrte Sinao auf dieses Instrument des Leidens, als wäre es eine giftige Schlange, die langsam auf sie zukroch.
»Sin, übersetz für mich«, sagte Tangye ruhig, und Sinao konnte nicht mehr tun, als zu nicken.
»Mangelnder Respekt wird nicht geduldet«, erklärte Tangye. Es kostete Sinao einige Mühe, diese Worte zu übersetzen, doch sie benutzte das Bild der verehrten Ahnen dafür.
»Mir ist aufgefallen, dass dieses Lager mehr und mehr Nahrung verschlingt, obwohl die Anzahl eurer Köpfe nicht zugenommen hat!«
Während sie nach den Worten suchte, wurde Sinao in rascher Folge heiß und kalt. Die Listen, erkannte sie, er spricht von den Vorratslisten!
»Es bleibt nur ein möglicher Schluss: Es sind Diebe unter euch! Gemeine, feige Diebe, die euch allen die Nahrung stehlen. Sie spucken euch ins Gesicht und lachen über euch!«
Allen Sklaven war bewusst, womit diese Ansprache enden musste. Nervöse Blicke wurden ausgetauscht, immer wieder sahen sie zu den Soldaten mit ihren Gewehren. Ihre Furcht war fast greifbar, und auch Sinaos Herz wurde schwach. Das Gefühl der Überlegenheit war verflogen, und in die zurückgelassene Leere drang nun Panik ein, machte sich kalt schwitzend Platz in ihrem Geist, bis ihre Gedanken langsam und unzusammenhängend wurden, wie Wolkenfetzen an einem stürmischen Himmel.
»Ich werde nichts dergleichen dulden! Wir werden die Diebe finden, und wir werden sie bestrafen! Nur wenn sie jetzt vortreten, werde ich mich gnädig zeigen!«
Niemand bewegte sich, kaum einer wagte zu atmen. Gnade mochte ein schneller Tod sein oder ein hohles Versprechen. Wer hat Nahrung gestohlen?, überlegte Sinao, doch sie wusste die Antwort nicht. Nur die Küchensklaven hatten Zugriff auf die Vorräte. Diese Erkenntnis ließ sie schlucken. Eine von uns? Ahnen, helft uns! Niemand aus dem Lager kommt an die Vorräte heran, es muss eine von uns gewesen sein!
Sie wagte nicht aufzusehen, aus Angst, dass Tangye die Schuld in ihrem Blick bemerken würde. Jetzt war er wieder der Mann der geflüsterten Geschichten, der gesenkten Häupter, der Angst und der Schmerzen. Tangye, der Herr über Leben und Tod.
»Niemand? Wie ihr wollt. Morgen früh komme ich wieder. Wenn sich dann niemand freiwillig stellt, lasse ich fünf von euch erschießen. Und abends werde ich wieder hier sein und die gleiche Frage stellen. So lange, bis ihr mir die Diebe übergebt!«
Als er das sagte, legten die Soldaten ihre Gewehre an und zielten auf die Menge der Sklaven. Einige von ihnen fielen auf die Knie, andere begannen zu weinen. Auch Sinao zitterte am ganzen Leib, als sie in die Mündungen der Feuerwaffen blickte. Nein, bitte nicht. Wir wollten fliehen. Wir müssen von hier fort. Bitte nicht.
Vielleicht hatten die Ahnen ihr Flehen erhört, vielleicht wollte Tangye ihnen nur drohen; die Soldaten jedenfalls schossen nicht. Stattdessen trat der Aufseher zu dem Kessel mit dem Eintopf und kippte ihn um. Das Essen lief heraus und troff auf die staubige Erde. Dann stellte Tangye den halb geleerten Metallkessel wieder auf.
»Ab heute halbe Rationen! Bis die Diebe bestraft sind! Es ist ihre Schuld, dass ihr hungern müsst!«
Sinaos Stimme flatterte, wurde hoch und schrill und fiel wieder in ihre gewohnte Tonlage zurück, als sie diese Worte übersetzte, doch Tangye hörte sie schon nicht mehr. Er schritt entschlossen aus dem Lager, gefolgt von den Soldaten und Aufsehern, und ließ die Sklaven hilflos und eingeschüchtert zurück. Obwohl er fort war, konnte Sinao sich nicht bewegen, keinen Schritt tun, nicht einmal einen Finger krümmen. Es war Majagua, der sie aus ihrer Starre riss.
»Verteilt das Essen«, flüsterte er eindringlich. »Gehorcht. Macht sie nicht noch wütender.«
Sinao nickte, denn er hatte recht. Gewalt lag in der Luft, und schon der geringste Anlass mochte den Blassnasen als Vorwand dienen, damit sich ihre Wut an ihnen entlud.
Sie ging zu den anderen Küchensklaven. Brizula stellte sich dicht neben sie und flüsterte: »Was hast du ihm erzählt?«
»Nichts«, erwiderte Sinao heftig. »Er hat mich gefragt, ob die Listen richtig sind, und ich habe Ja gesagt. Sie stimmen, da bin ich sicher!«
»Wer soll denn Essen klauen? Und wie? Die Sachen sind doch alle im Vorratskeller im Fort.«
»Tangye hat nicht zu Ende gedacht«, vermutete die junge Sklavin. »Nur wir kommen an das Essen …«
Ihre Worte verklangen, und Brizulas Augen weiteten sich. Die ältere Frau hielt die Hand vor den Mund und schüttelte
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