Sturmwelten 01
er ganz woanders. Ohne dass er es wollte, stiegen Bilder von Lessan in seinem Geist empor, von dem Empfang und der jungen Offizierin Roxane. Bilder, die Jaquento auch jetzt noch verwirrten. Vor allem jedoch waren sie an diesem Ort ziemlich unpassend.
»Ich gehe ein wenig hinaus«, kündigte Jaquento an und nahm seinen Hut. »Amüsier dich ruhig, ich halte die Stellung.« Pertiz verneigte sich artig, grinste und winkte lässig mit der Rechten in Richtung der beiden Mädchen.
Am Vormittag hatte es einen Regenschauer gegeben. Es hatte wie aus Kübeln gegossen, und die Wege waren nun schlammig und dampften im grellen Sonnenlicht. Die Luft war heiß und feucht, doch es wehte ein leichter Wind, der den Tag gerade so erträglich sein ließ.
Im Freien lebte Sinosh ein wenig auf und hob den Kopf. Jaquento folgte seinem Blick und sah den niedrigen Hügel, der sich über der Stadt erhob. Der Hügel war der Beginn einer kleinen Kette, die sich quer über die gesamte Insel zog. Schon bei der Anfahrt hatte man sehen können, dass die Hügel die Insel nicht nur geografisch teilten, sondern auch zwei unterschiedliche Vegetationen schufen. Im Osten waren die Hänge bewaldet und von einem satten Grün, während im Westen eher Büsche und Gräser vorherrschten.
»Lass uns ein wenig laufen«, murmelte Jaquento der Echse zu und stapfte den Schlammpfad entlang, der in solchen Orten als Straße durchging. Seine Füße suchten den Weg für ihn, und er achtete kaum auf seine Umgebung. Die Zeiten, da die Einwohner Brebants nebenher ein wenig Piraterie betrieben hatten, lagen schon lange zurück, hatte Pertiz ihm erklärt. Heute war er der Freibeuter, und wenn, dann war es an den Inselbewohnern, sich vor ihm zu fürchten, und nicht umgekehrt.
Unbewusst folgte er dem Weg hinauf auf den Hügel. Schon bald hatte er die letzten Häuser hinter sich gelassen und schritt zwischen Maniok- und Maisfeldern den Hang hinauf. Hier und da schmiegten sich noch kleinere Höfe in die Landschaft, die kaum mehr waren als einfache Hütten inmitten brandgerodeter Felder. Es gab Ziegen und Schweine und selten auch Kühe zu sehen, doch Jaquento hatte keinen Blick für sie übrig. Seine Gedanken kreisten um die beiden Schiffe, die unten im Hafen lagen, um die Mannschaften dieser Schiffe, ihre Vergangenheit und Zukunft.
Mit breiten Pinselstrichen hatte Pertiz ein großes Gemälde entworfen, eine Art Vision einer verschworenen Gemeinschaft, die nur sich selbst Rechenschaft schuldete. Mit seinen grellen Farben war dieses Bild verlockend gewesen, und es übte noch immer eine große Anziehungskraft auf Jaquento aus. Nicht allein, weil dieser Weg ihm versprach, seiner Vergangenheit und seinen Sünden zu entkommen, sondern weil er auch zu einem lohnenswerten Ziel geworden war. Doch der junge Hiscadi wusste, dass die Farben in der Realität verblassen würden, dass sich eine Dunkelheit einschleichen würde, welche das Leben überschatten mochte. Theoretisch waren die Männer und Frauen der Todsünde frei, doch Jaquento hatte schon erlebt, welchen Einfluss Deguay auf sie ausübte. Und selbst ein Schläger wie Quibon mochte Macht an sich reißen, wenn ihm niemand entgegentrat. Und dann wurde aus dem Traum schnell ein Albtraum.
Endlich erreichte Jaquento die Kuppe des Hügels und sah sich um. Auf der von der Stadt abgewandten Seite gab es kaum noch Felder. Der Weg verlief sich schon bald zwischen großen Bäumen, deren dunkles Laub feucht glitzerte. An den Hängen der Hügel hingen weiße Wolkenfetzen; Überbleibsel des Regens, die sich an das bisschen Land klammerten, als befürchteten sie, von den beständigen Winden auf den endlosen Ozean geweht zu werden.
Tief unten im Tal zwischen den beiden Hügeln erspähte Jaquento eine Bewegung, die ihn stutzen ließ. Es sah aus wie eine weitere, bodengebundene Wolke, doch sie schien weit mehr vom Wind bewegt zu werden als die sonstigen Nebelzungen um sie herum. Verwirrt beschattete er die Augen mit der Hand und blickte angestrengt hinunter. Zwischen den Bäumen stieg die helle Wolke empor.
Mit beängstigender Geschwindigkeit zog sie den Hang hinauf, änderte kurz die Richtung und hielt dann auf Jaquento zu. Es war kein Nebel, sondern eine Armada von kleinen Wesen, wie er erkannte: Schmetterlinge. Viele Tausend oder Zehntausend Schmetterlinge mit weißlich-beigen Flügeln, die nun den Hügel hinaufkamen. Innerhalb weniger Herzschläge fand sich der junge Hiscadi in einem Gewirr von Schmetterlingen wieder, von denen jeder
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