Sturmwelten 02. Unter schwarzen Segeln
andere, ebenso idealistisch wie absurd anmutende Veränderungen forderten. Allerdings war das
vielleicht keine Überraschung, denn das junge Volk ließ sich leicht beeinflussen und agitierte selbst nicht ungern. Und war es nicht das Vorrecht der Jugend, Torheiten mit größter Leidenschaft zu begehen?
Inzwischen hatte sich ein regelrechtes Lager inmitten der sanften Hügel des südlichen Favare gebildet, das sich jeden Tag weiter ausdehnte. Die Reihen der Zelte wuchsen zusehends. Mit Verwunderung stellte der Poet eines Morgens fest, dass es in diesem Lager wie in einer Stadt zuging und bereits die ersten Bordelle und Tavernas in großen Zelten eröffnet worden waren. Ein Besuch bei einer jungen Dame käuflicher Zuneigung erwies sich allerdings als eher frustrierendes Erlebnis, da sie anscheinend auf die Börsen und Wünsche der Wanderarbeiter ausgerichtet war, deren Verlangen wohl hauptsächlich rasch befriedigt sein wollte. Zumindest muss ich › Quatsch nich’ so viel rum und komm endlich zur Sache, Süßer ‹ wohl so interpretieren , dachte der Dichter seufzend, als er bereits nach wenigen Augenblicken das entsprechende Zelt wieder verließ, empört über die derbe Ausdrucksweise der Dame und mit dem vagen Wunsch, sich alsbald zu waschen.
Zunächst hatte Franigo versucht, sich einzureden, dass er Herr der Lage war und sein Leben selbst kontrollierte, doch diese Illusion wurde ihm mit jedem Tag ein Stückchen mehr genommen. Inzwischen gab es Berichte aus anderen Teilen des Landes über Kämpfe und Tote, über Hiscadi, die sich unter dem alten Adlerbanner ihres Volkes sammelten und sich den géronaischen Soldaten entgegenstellten. Natürlich war Franigo als überzeugter Patriot dem Gedanken an ein freies Hiscadi nicht abgeneigt, doch die Geschehnisse entwickelten sich so rasant, dass er das Gefühl bekam, die Welt würde zunehmend verrückt.
Sein Weg führte ihn durch das Lager. Überall wehten Wimpel, hastig zusammengenähte Banner, und hier und da waren
Pamphlete an die Zeltstangen geheftet worden, auf denen die Bewohner ihre Meinung über die Zukunft, Vergangenheit und Gegenwart kundtaten. Nicht selten erblickte Franigo darin auch Zitate seines Werkes, vor allem aus den Liedern und Versen, die er auf seinen jüngsten Reisen gedichtet hatte, und in diesem Kontext wirkten sie fremd auf ihn, als entstammten sie gar nicht seiner Feder. Viele der Arbeiter, die sich der Zeltstadt angeschlossen hatten, konnten nicht lesen oder schreiben, und die, die es konnten, genossen bei ihren Kameraden einigen Respekt. Und der Verfasser der Zeilen …
»Franigo! Franigo!«
Es war der junge Alserras, ein Student aus reichem Hause, das erst kürzlich sein gesellschaftliches Ansehen durch eine Hochzeit eines der Männer der Familie mit einer verarmten, aber edlen Adelstochter vermehrt hatte. Der Mann war kleiner als Franigo und trug, wohl zum Trotz, einfache Arbeiterkleidung, vermutlich in dem irrigen Glauben, sie schmeichle seiner Figur, und möglicherweise, um seinen alten Vater zu erzürnen. Sein Knebelbart war hell und recht dürftig, wie der Poet bemerkte, aber in seinen Augen glühte das Feuer der Rechtschaffenheit – und der Bewunderung.
Selbstverständlich hatte Franigo immer die Anerkennung seines Talents gesucht und war keineswegs zurückgescheut, wenn es darum ging, die Lobpreisungen anderer zu empfangen. Aber dies war anders. Wenn Alserras von ihm sprach, dann klang es eher, als rede er von Corban höchst selbst, und seine Worte waren von einem derart religiösen Charakter, dass der Poet sich von ihnen nicht selten unangenehm berührt fühlte.
»Was gibt es?«, fragte er dementsprechend kurz angebunden.
»Verzeiht, Ihr habt sicherlich dringende Geschäfte zu erledigen, aber ich wollte der Erste sein, der Euch die Neuigkeit überbringt.«
Fragend blickte Franigo ihn an. Die Miene des Studenten verdunkelte sich: »Oder wisst Ihr es schon?«
»Was weiß ich schon?«
»Man hat Euch gewählt!«
Schon befürchtete der Poet, dass es um die Frage ginge, wer den géronaischen Statthaltern als Sündenbock für all die Frevel wider ihre Herrschaft präsentiert werden solle. Insgeheim befürchtete er ohnehin, dass seine schicksalhafte Verbindung mit den Taten der Wanderarbeiter ihm einigen Zorn einbringen würde. Die Géronaee waren nicht für ihre Milde bekannt, und auch aus diesem Grund waren es noch immer ihre Regimenter, die über die Städte und Festungen im Land herrschten.
»Gewählt?«, erkundigte er sich also
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