Sturmwelten 03. Jenseits der Drachenküste
Er deutete auf einen langen Küstenabschnitt, der noch hinter den Häfen lag, die Roxane ihm und Groferton gezeigt hatte. Die Karte war an dieser Stelle sehr einfach gehalten, mit wenigen Markierungen und Zahlen. Sie war so trostlos, wie das Land dort selbst sein mochte.
»Das ist die Drachenküste. Hundert Meilen kaum bewohnter Klippen mit unzähligen vorgelagerten Riffen und Untiefen.
Trügerisches Fahrwasser, selbst in guten Zeiten, und kaum erforscht.«
»Vielleicht trägt sie diesen Namen zu Recht«, warf Coenrad ein. »Wir haben zwar seit dem Angriff in Boroges keine Drachen mehr gesehen oder gespürt, aber von irgendwoher müssen sie schließlich gekommen sein.«
Jaquento nickte nachdenklich, als er die Worte erwog und ihm ein Bild von Sinosh vor Augen trat. Wo mochte die erstaunliche kleine Echse im Augenblick wohl sein?
Er ließ die Kuppe seines Fingers über die Karte wandern, folgte, vorbei an den Häfen, die die letzten Bastionen der Zivilisation vor der Drachenküste bildeten, dem Verlauf der Küstenlinie und erreichte schließlich den Rand der Karte.
»Und was befindet sich jenseits der Drachenküste?«
»Terra incognita«, antwortete Roxane langsam. »Einige Handelsposten der Géronaee und das Reich des Kaisers.«
Jaquento rieb sich das Kinn, ließ seinen Blick über die Karte wandern. Natürlich. Das muss es sein. »Dorthin fährt die Todsünde «, erklärte er und sah Roxane in die Augen. »Dorthin. Jenseits der Drachenküste, dort liegt ihr Ziel.«
Einen Moment erwiderte sie seinen Blick, als versuche sie zu erforschen, woher er seine Gewissheit nahm, dann nickte sie entschlossen.
»Ich habe bereits dieselbe Überlegung angestellt. Coenrad, Sie werden Ihre Anstrengungen, die Fracht der Todsünde aufzuspüren, auf diese Gegend konzentrieren. Und ich werde einen entsprechenden Kurs berechnen und der Mannschaft mitteilen.«
Der Maestre salutierte, ehe er zu husten begann. »Darf ich mich entfernen, Thay, bevor meine Gesundheit noch mehr vom Wetter in Mitleidenschaft gezogen wird?«, fragte der junge Mann in seinem üblichen leidenden Ton.
»Erlaubnis erteilt. Verschwinden Sie.«
Jaquento blieb noch einen Moment neben Roxane stehen, während Groferton bereits wieder unter Deck verschwand, obwohl der Hiscadi spürte, dass auch er besser gehen sollte. Schon jetzt hatte er das Gefühl, dass zu viele Blicke der Mannschaft auf sie beide gerichtet waren.
Als ob sie was erwarten?, fragte er sich. Dass ich Roxane gleich hier und jetzt vor aller Augen küsse?
Wenn er zu sich selbst ehrlich war, musste er sich zwar eingestehen, dass die Idee ziemlich verlockend war, aber er wusste, dass Roxane ihn vermutlich kielholen lassen würde, falls er etwas Entsprechendes auch nur versuchte.
»Er ist schon etwas eigenwillig, dein Bordmaestre«, murmelte Jaquento stattdessen so leise, dass nur sie es hören konnte.
Die Kapitänin nickte. »Aber ein guter Mann, trotz allem.«
»Es tut mir leid, dass ich fast mit ihm aneinandergeraten wäre.«
»Danke, dass du so ruhig geblieben bist. Es geschehen wohl doch noch Zeichen und Wunder.«
Er warf ihr einen raschen Seitenblick zu und sah, dass tatsächlich ein leichtes Lächeln auf ihren Lippen lag.
»Ich wollte dir keine Scherereien machen«, erklärte er.
Mit einer Stimme, die nicht mehr als ein heiseres Flüstern war und ihm einen wohligen Schauer über den Körper jagte, sagte sie: »Nun, das wird sich auf Dauer wohl dennoch kaum vermeiden lassen, nicht wahr, Jaq?«
Der Hiscadi erwiderte ihr Lächeln, dann richtete er sich auf. »Aye, aye, Thay!«, versicherte er laut, als habe sie ihm einen Befehl gegeben, bevor er die Treppe wieder hinabstieg und zu Bihrâd zurückkehrte.
SINAO
Ihre nackten Fußsohlen klatschten auf die Planken des Schiffes, jeder Schritt eine Zahl in ihrem Geist. Wenn sie sich darauf konzentrierte, konnte sie ihre Schritte zurückverfolgen, immer entlang der Zahlenkette, bis in jene Tage, als sie noch ein kleines Kind gewesen war, das nichts von seiner Zukunft als Sklavin wusste. Und auch nichts von seiner Zukunft als Maestra, fügte sie in Gedanken trotzig hinzu.
Anui hatte wirklich einen seltsamen Plan mit ihr verfolgt, der sie zuerst als Eigentum der Weißen auf die Insel Hequia geführt hatte und nun als Gast eines anderen Weißen auf ein gewaltiges Schiff, das den Namen Imperial trug.
Die Fähigkeiten, die die Ahnen ihr geschenkt hatten, hätten sie früher auf Hequia leicht das Leben kosten können, hatten es ihr aber
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