Sturmwolken am Horizont -: Roman (German Edition)
Tag zu entscheiden, wie dieser anzupacken war. Dabei fühlte sie sich zunehmend überfordert. Selbst an diesem Heiligabend – den die Russen ignorierten, da sie ihrem eigenen Kalender folgten – hatte allein die Fahrt von der deutschen Kirche bis an die Mojka ausgereicht, jeglichen Frieden wieder abzutöten, den sie im Gottesdienst verspürt hatte. Unverhohlene Drohungen in Richtung der Deutschen, als sie die Kirche verließen, die Präsenz der Polizei auf den Straßen und die Hungerleichen auf einem Handkarren waren dafür mehr als ausreichend gewesen. Anki fühlte sich einsam, sehnte sich nach einer Freundin oder einem tatkräftigen Helfer an ihrer Seite.
Trotz des dicken Schals und des langen Wintermantels frierend betrat sie die Stufen. Sie streckte ihre Hand nach einer Säule aus, um sie, wie so oft, zu berühren, als sie eine männliche Stimme ihren Namen rufen hörte. Verwundert drehte sie sich um, konnte aber niemanden sehen. Furcht stieg in ihr auf. Hatte ihr jemand aufgelauert? Sollte sie schnell eintreten und die Tür verrammeln?
Wieder vernahm sie ihren Namen und etwas Vertrautes in der Stimme ließ sie zögern. »Hallo? Wer ist denn da?«, wagte sie in die klirrend kalte Nacht zu rufen, erhielt aber keine Antwort.
Dann sah sie ihn. Ein schwankender Schatten, der sich an der Kanalmauer abstützen musste, um nicht zu stürzen, schemenhaft beleuchtet durch die Lampe in seinem Rücken. Der Mann war groß und seine Kleidung hing ihm unförmig am Körper. Sein Gesicht konnte sie nicht sehen, da es von einer Pelzmütze beschattet wurde. Unschlüssig betrachtete Anki die Gestalt, von der wohl kaum eine Gefahr für sie ausging. Dafür wirkte sie zu geschwächt.
Die Person blieb auf der niedrigen Mauer sitzen. Also schluckte Anki ihre Unsicherheit hinunter, verließ das sie schützende Vordach und trat auf die Straße. Ihre Schritte hallten einsam durch die Dunkelheit. Vor ihrem Gesicht tanzte ihr Atem in weißen Wolken. Als sie nur noch zwei Meter von dem Mann entfernt war und dieser den Kopf hob, erkannte sie ihn.
»Robert!«
»Meine liebe Anki.«
Ein Hitzeschauer durchrieselte ihren Körper. Einen Moment lang schienen winzige gleißende Funken vor ihren Augen zu explodieren, dann sah sie wieder klar. »Robert, du bist zurück!«
»Dank Fürst Chabenskis Brief, deinem Einsatz und Dr. Botkins Ausdauer.«
»Oh Gott, ich danke dir!«, stieß Anki hervor und wollte Robert um den Hals fallen.
Dieser hielt sie jedoch um Armeslänge von sich fern. »Bitte nicht, Anki. Ich stinke wie ein Schweinestall, habe Läuse und bin unsäglich erschöpft. Verschieben wir das auf später.«
»Ungern«, kicherte Anki, die sich plötzlich leicht und glücklich fühlte. Ihr Robert war zu ihr zurückgekehrt. Jetzt würde alles gut werden!
Auf seinem ausgezehrten, schmutzigen und von Leid und Tod gezeichneten Gesicht zeigte sich das vertraute fröhliche Lächeln. Dabei fielen die letzten Sorgen um seinen Gemütszustand von ihr ab. Die vergangenen Monate mochten ihre Spuren an dem geliebten Mann hinterlassen haben, aber er war nicht verloren.
Minutenlang sahen sie sich einfach nur in die Augen und genossen den Anblick und die Anwesenheit des anderen.
»Was tun wir denn jetzt? Wir können ja schlecht den Rest der Nacht hier draußen stehen«, sagte Anki schließlich und betrachtete hingebungsvoll die Grübchen in seinen von Bartstoppeln überzogenen Wangen.
»Darüber habe ich nachgedacht, seit sie mich in Omsk in den Viehwaggon verfrachteten. Du wirst mich jetzt in diesen protzigen Palast schmuggeln und Alex holen. Er wird mir beim Bad, bei der Rasur und beim Haarschnitt helfen, diese Kleidung verbrennen und etwas anderes zum Anziehen für mich auftreiben. Sobald ich sauber und ungezieferfrei bin, umarme und küsse ich dich, bis du keine Luft mehr bekommst. Danach schlafe ich vermutlich zwei oder drei Tage durch, und bis dahin hast du in einer der deutschen Kirchen einen Pfarrer für unsere Trauung aufgetrieben. Und anschließend versinke ich für lange, lange Zeit in deiner Liebe. Vielleicht so lange, bis Dr. Botkin vor unserem Bett steht und fordert, dass ich endlich zu arbeiten beginne.«
Obwohl Anki errötete, was Robert entweder ignorierte oder in der Dunkelheit nicht sah, lachte sie leise auf. »Das hört sich nach einem wirklich gut durchdachten Plan an.«
Robert ließ ihre Oberarme los und setzte sich wieder auf die kalte Mauer. »Du willst mich demnach noch immer heiraten?«
»Ganz nach Plan.«
»Dann bring
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