Sturmzeit
Außerdem brauchen wir Lebensmittelkarten für Nicola, Kat und mich. O - Kat kennst du noch gar nicht, Mutter. Alex' Schwester aus München. Wir brauchen irgend etwas zu essen, wenigstens für Nicola. Habt ihr was da?« Sie sprach hastig, sprang von einem Thema zum anderen. Nervös lief sie ihrer eigenen Stimme davon, die sie drängte, weitere unvermeidliche Fragen zu stellen. Schließlich brachte sie es hastig und wie nebenbei heraus: »Mit Jo und Christian ist alles in Ordnung?«
Elsa hob den Kopf. »Wir hoffen, daß Jo zu Weihnachten Urlaub bekommt.«
»Dann lebt er also, Gott sei Dank! Und Christian, kommt er auch?«
Elsa öffnete den Mund, schloß ihn aber wieder. Linda wandte sich ab. Die Standuhr in der Ecke tickte dröhnend. Felicia griff sich an die Schläfen. »Christian«, wiederholte sie mit schleppender Stimme, »kommt er auch zu Weihnachten?«
Linda schluchzte auf. Vor Felicias Augen begann sich das Zimmer zu drehen. Hilfesuchend griff sie nach einer Stuhllehne, umklammerte sie so fest, daß die Knöchel an ihrer Hand weiß wurden. »Mutter! Christian ist doch nicht...«
»Er ist bei Verdun gefallen«, sagte Elsa tonlos, »im Sommer 1916. Bald nach Jorias.«
»Jorias - er auch?«
Niemand sagte etwas. Felicia versuchte, ihre Gedanken zu ordnen. In ihrem Kopf wirbelte es. Christian tot, ihr Christian, ihr kleiner Bruder, mit dem sie heftig gestritten, den sie heiß geliebt hatte, dem gegenüber sie sich oft wie eine Glucke vorgekommen war, die ihr Küken verteidigt. In ihrem Gedächtnis erwachte ein Bild: Lulinn, ein heißer Juliabend, und zwei Jungen kamen über die Wiesen geschlendert, barfuß und braungebrannt, mit wirren Haaren und lachenden Gesichtern, randvoll mit Kraft und Lebenslust.
»Lieber Gott«, sagte sie hilflos. Sie drängte die Tränen zurück.
Linda weinte, und Kat, obwohl sie Christian gar nicht gekannt hatte, sah so aus, als werde sie auch gleich damit beginnen. Wenn sie sich jetzt nicht zusammennahm, würden sie alle den ganzen Abend lang weinen.
»Sie haben Onkel Leo wegen versuchter Desertion erschossen«, sagte Elsa.
»Was?«
»Er wollte fliehen, aber sie haben ihn erwischt. Er hat ja nie in den Krieg gewollt.«
Felicia ließ sich in einen Sessel fallen. Onkel Leo tot - er, der immer beschwipst war und an keiner Frau vorübergehen konnte?
»Linda«, sagte sie mit schwacher Stimme, »hast du einen Schnaps für mich?«
Gott sei Dank, Schnaps war da. Sie trank ihn in kleinen Schlucken. Das also ist das Ende vom Lied, dachte sie bitter, wir sitzen da und zählen unsere Toten. Vater, Belle, Christian, Onkel Leo und Jorias... und wer kann mir sagen, wofür? Sie sah auf das graue Haar ihrer Mutter, und die Kraft der Verantwortung, die sie schon durch Rußland getragen hatte, strömte in sie zurück. »Es wird alles gut«, sagte sie sanft, »ihr braucht euch keine Sorgen zu machen.«
Von der Tür her kam ein Geräusch. Es war Kat, die einen Schritt vortrat. Sie sah bleich und gequält aus. »Wie geht es Alex, meinem Bruder?« fragte sie, Verwunderung und Vorwurf in der Stimme, und Felicia begriff erst nach einigen Sekunden, daß beides ihr galt. Sie biß sich auf die Lippen. Sie hätte nach Alex fragen müssen.
»Er steht noch in Frankreich, soviel ich weiß«, sagte Elsa.
»Wie? Alex ist an der Front?«
»Er wollte es unbedingt«, erklärte Linda. »1916 schon.«
»Das ist ja wohl nicht zu fassen!« Felicia konnte es kaum glauben. Kat blickte sie verletzt an.
Felicia konnte die vorwurfsvollen Augen ihrer Schwägerin nicht länger ertragen. Sie konnte jetzt überhaupt niemanden mehr ertragen. Sie stand auf und ging hinüber in ihr Zimmer. Nichts hatte sich dort verändert, seitdem sie es drei Jahre zuvor verlassen hatte. Dieselbe lilaverhangene Lampe, die blassblaue Seidendecke auf dem Bett. War das die Heimkehr? Sie öffnete das Fenster, atmete die kalte Luft, lauschte auf den vertrauten Lärm der Berliner Straßen. Vergeblich suchte sie nach dem Frieden, den sie hätte empfinden müssen. Wenn sie ihn hier nicht fand, wo dann? Sie sah hinaus in die Nacht. Dort im Osten, weit, weit fort, lag Rußland. Ob es Maksim war, wonach sie suchte?
Sie konnte keine Antwort finden. Undeutlich begriff sie nur dies: Als sie von Christians Tod erfuhr, war dies das Schlimmste, was ihr bisher widerfahren war. Was immer von nun an kam, es konnte nicht schrecklicher sein.
Die ganze Nacht über, als sie in ihrem Bett lag und keinen Schlaf fand, konnte sie zwischen all den Empfindungen,
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