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Sturmzeit

Sturmzeit

Titel: Sturmzeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Link Charlotte
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was du ausgehalten hast.«
    Rasch blickte Felicia auf. Die Benommenheit wich. Ihr Verstand arbeitete wieder glasklar. Seine Stimme klang anders als sonst, und schnell vergewisserte sie sich, daß es mehr war als bloße Sorge, was aus seinen Zügen sprach.
    Früher war sie immer verwundert gewesen, daß er keinen Moment lang ihren vielfach erprobten Reizen erlag, nun hingegen begriff sie den fremden Ton in seiner Stimme nicht. Gestern erst hatte sie festgestellt, daß sie den Zauber allererster Jugend bereits verloren hatte, und heute kam Maksim und schien etwas in ihr zu entdecken, was er bislang nicht gesehen hatte. Verwirrt blickte sie zur Seite.
    Maksim betrachtete Felicia. Sie sah sehr müde und blaß aus. Die Bewegungen, mit denen sie ihren Mantel übereinander schlug und ihre Beine an den Körper zog, waren von einer unbewußten Sinnlichkeit. In ihrem Lächeln lag keine Berechnung. Allzu unvorbereitet traf ihn die Erkenntnis: Sie war kein Kind mehr. Irgendwo auf dem Weg, den sie gegangen war, seit er sie in jener Nacht in München geküßt hatte, war ihre Kindlichkeit verlorengegangen. Ob es geschehen war, als ihr Vater starb, als sie durch die Petrograder Revolution irrte, als sie bei Nacht und Nebel fliehen oder als sie Belles Tod miterleben mußte, er wußte es nicht. Aber sie war kein unreifes Kind mehr. Er konnte die Linien ihres Körpers unter dem Seidenstoff erkennen; ihre festen, hohen Brüste, die langen, schlanken Beine. Derselbe Gedanke, der ihm gestern durch den Kopf geschossen war, kam ihm wieder: Sie ist schön und sehr stark. Und auf einmal sehnte er sich nach ihr. Er wollte mehr, als nur sie ansehen, ihre Schönheit bewundern, ihre Wandlung begreifen. Er wollte gerade das von ihr, was er immer hochmütig zurückgewiesen, wofür er sich unanfällig geglaubt hatte.
    »Felicia, ich liebe dich«, sagte er. Es klang erschrocken. Sie sah ihn an. »Wie bitte?« fragte sie überrascht. Sein Lachen schien angestrengt. »Spielen wir das Spiel jetzt anders herum?« Seine Finger glitten sanft ihren Arm hinauf, verharrten in der Armbeuge. Felicia schüttelte den Kopf. »Nein. Ich will das nicht. Nicht mehr. Es ist alles anders geworden.«
    »Felicia...«
    »Hör auf, Maksim. Solange wir beide einander kennen, hast du mich verachtet. Verachtet - aber irgendwo immer ganz gern haben wollen. All die Jahre mußte ich das Wechselspiel mitmachen. Es hat dir Genuß verschafft, immer zwei Schritte neben der wandelnden Versuchung einherzugehen und heroisch zu entsagen. Du brauchtest ja immer so verzweifelt dringend Beweise für deine Vollkommenheit als Revolutionär. Seht, da ist dieses Mädchen, jung und schön, und sie will mich, aber ich... ich leiste Verzicht! Nun tu's auch, Maksim. Geh zu Mascha zurück. «
    Felicia wollte sich abwenden, aber Maksim drehte ihr Gesicht zu sich, zwang sie, ihn anzusehen. »Das Bemerkenswerte an dir ist, daß du so selbstsüchtig, so egozentrisch bist, daß du dir einfach nicht vorstellen kannst, es könnte Menschen geben, die etwas nicht um ihrer selbst willen tun. Du siehst nicht weiter als bis zu deiner eigenen Nasenspitze, und es kommt dir gar nicht in den Sinn, daß das Leben noch ein paar Dimensionen mehr haben könnte. Da du nicht einmal im Traum daran denken würdest, die Welt verbessern zu wollen, suchst du bei jedem, der das vorhat, sofort das selbstsüchtige Motiv. Mein Verzicht auf dich muß einen ganz und gar eigennützigen Grund haben, und wenn ich dir jetzt erkläre, daß es nicht so war, dann wirst du es doch nicht begreifen. Weil du in deinem Denken gefangen bist wie jeder andere auch.«
    Sie starrte ihn an. Worauf, um Himmels willen, wollte er denn jetzt hinaus? Leise fuhr er fort: »Aber meine Welt... sie schwankt, Felicia. Es ist mir etwas Schlimmes passiert - ich habe angefangen zu zweifeln. Es ist, als trennten mich hundert Jahre von dem Mann, der ich einmal war. Es gibt so vieles, wovon ich nicht mehr sicher weiß, ob es wahr ist. Ich habe dir einmal gesagt, der Zweifler sei in Wahrheit immer der Stärkere. Aber ich weiß nicht... wenn das stimmt«, seine Stimme wurde immer leiser, »ob man sich dann so zerbrochen fühlen dürfte.«
    Felicias angespannte Züge lösten sich. Sie hatte nicht gewußt, wie sie auf alles, was er sagte, reagieren sollte, aber dies letzte nun war ihr vertraut. Zerbrochen hatte er sich genannt. Ein Gefühl der Reue stieg in ihr auf. Er litt wirklich, an der Welt, an seinen Zweifeln, an seiner Zerrissenheit oder woran auch immer, und

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