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Sturmzeit

Sturmzeit

Titel: Sturmzeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Link Charlotte
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sie stellte sich hin und klagte ihn an, weil sie sich selber müde, zermürbt und unglücklich fühlte. Sie streckte die Hand aus, strich sanft über seine Wange. »Ach Maksim, es ist soviel Zeit vergangen.«
    Im gleichen Augenblick wußte sie, daß das nicht stimmte. Wie viele Jahre auch dazwischenliegen mochten, was immer geschehen war, seitdem sich die Welt in den Abgrund dieses irrsinnigen Krieges gestürzt hatte - an diesem Abend in der verschneiten Einsamkeit fühlten sie sich beide auf einmal wieder ganz jung und frei, und sie überließen sich um so mehr diesem Empfinden, als sie sich beide im gleichen Moment der Erkenntnis unterworfen sahen, daß ihre Sommer in Lulinn hundert Jahre her waren und daß keiner von ihnen seine Erlebnisse seither würde auslöschen können.
    Auf einmal fühlten sie sich schwach und hilflos wie Kinder, zerrieben zwischen ihrer Sehnsucht nach einer vergangenen Zeit und dem Wissen, daß nichts im Leben wirklich wiederholbar war.
    Zuerst hielten sie einander nur bei den Händen, vorsichtig und scheu, als seien sie wirklich Kinder, und als habe es für Maksim nie Mascha gegeben und als hätte Felicia nie in Alex' Armen gelegen. Als Maksim seine Hand löste, wich Felicia unmerklich zurück, um sich gleich darauf vorzuneigen und seine Lippen zu suchen. Seine Hand lag an ihrem Hals, glitt hinab, strich den Stoff ihres Morgenmantels beiseite. Sie küßten einander, sanft erst, dann heftig. Nebeneinander streckten sie sich auf dem Teppich aus, preßten ihre Körper aneinander, verschlangen ihre Beine, spielten in den Haaren des anderen, lachten und flüsterten einander all die Worte zu, die laut auszusprechen sie nie gewagt hatten und nie wagen würden. Es ist absolut verrückt, dachte Felicia, verrückt und unbegreiflich!
    Als sein Körper plötzlich über ihrem war, machte sie eine Bewegung der Abwehr; nicht, weil sie ihn nicht gewollt hätte, sondern weil sie von der jähen Angst ergriffen wurde, es nicht ertragen zu können, wenn er sie wieder verließ. Doch sie zögerte nur Sekunden. Staunend betrachtete sie sein Gesicht und seine Augen; dann kam ihr eine kurze, blitzhafte Erinnerung an Alex, an die rücksichtslosen, rabiaten Zweikämpfe, die sie einander im Bett geliefert hatten und in denen es darum gegangen war, daß jeder seine eigene Kaltschnäuzigkeit bewies. Mit Maksim fühlte sie sich nicht gehetzt, sondern zum ersten Mal in ihrem Leben frei von der Angst, jemand könne wirklich und zu nah an sie herantreten - vielleicht, so dämmerte es ihr, weil sie zu jeder Sekunde wußte, daß Maksim ein Geschenk auf Zeit war. Lust und Glück trübten ihr Bewußtsein; sie erlaubte sich die Hingabe an das Schicksal, an Liebe, an Entzücken.
    Als sie daraus erwachte, Wange an Wange mit Maksim lag, die Mattigkeit und Wärme ihres Körpers spürte, als das übermächtige Glücksgefühl bereits den matteren Glanz von Vergangenem annahm, begriff sie, daß Maksim zu Mascha zurückgehen, daß sie Alex wiedersehen würde. Mit dieser Nacht konnte sie nichts anderes tun, als sie in das Nest ihrer Erinnerungen tragen und dort bewahren. Sie lächelte, und in diesem Lächeln lag verborgen, was sie dachte: Du wirst mich immer verlassen, Maksim, aber du wirst auch immer wiederkommen. Je mehr du an dir und deiner Revolution zweifelst, desto mehr wirst du mich brauchen. Du wirst so vieles brauchen, wovon du geglaubt hast, es sei weit unter deiner Würde. Ach, Maksim, das Leben ist die absurdeste Geschichte, die je geschrieben wurde, findest du nicht?

10

    Sie kehrten in ein trauriges, kaltes, hungriges Berlin zurück. Das Jahr 1917 neigte sich seinem Ende zu, und das folgende Jahr schien keine Aussicht auf Frieden bereitzuhalten. An den Fronten starben die Soldaten, und es gab beinahe keine Familie, die nicht wenigstens einen Toten aus ihrer Mitte zu beklagen hatte. Die Sozialisten erklärten wieder und wieder, hier werde ein Volk als Kanonenfutter mißbraucht, und auch die Unparteiischen begannen sich zu fragen, ob da nicht etwas dran sei. Man verlangte zu wissen, weshalb dieser Krieg eigentlich geführt wurde, und fand keine schlüssige Antwort. Hinzu kam die schlechte Versorgungslage. Besonders in den Großstädten hungerten die Leute erbärmlich, vor allem, seit die Blockade der Alliierten ihre ganze Wirkung zeigte. Mehr als eine Million Menschen in Deutschland waren seit 1914 am Hunger gestorben. Schaudernd erinnerte man sich des berüchtigten Steckrübenwinters der Hungerjahre 1916 und 1917, als es

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