Sturmzeit
außer ein paar matschigen Rüben buchstäblich überhaupt nichts mehr gegeben hatte. Die Ernte des vergangenen Sommers hatte nicht einmal die Hälfte dessen gebracht, was in Vorkriegsjahren erwirtschaftet worden war. Kriegsgewinnler und Schieber trieben ihr Unwesen, sorgten für neuen Zündstoff. Vom euphorischen Solidaritätsgefühl des ersten Kriegsjahres war nichts übrig geblieben. Das erste, was Felicia bei ihrer Rückkehr nach Berlin sah, war eine Schar demonstrierender Arbeiter, die rote Fahnen schwenkten und auf gewaltigen Transparenten den Friedensschluß forderten. Für einen Moment schien es ihr, als sei sie geradewegs wieder in Petrograd gelandet. In der Schloßstraße lebten Elsa, Linda und der kleine Paul zusammen. Die beiden Frauen und der zweijährige Junge wirkten sehr einsam in der großen, stillen Wohnung. Paul blätterte den ganzen Tag in Bilderbüchern, während seine Mutter und seine Großmutter im Salon saßen und für die Soldaten strickten - unverdrossen, wie sie es schon im August 1914 getan hatten. Felicia kam der Gedanke, daß sie damit selbst dann noch fortfahren würden, wenn der Krieg längst vorbei wäre.
Linda hatte sich nicht verändert. Man hätte sie ins Fegefeuer selber stellen können, es hätte ihre Lieblichkeit, ihr großäugiges Puppengesicht nicht berührt. Wegen der schlechten Ernährung sah sie zwar blaß und mager aus, aber sie spitzte noch ebenso unschuldig die Lippen wie früher, schlug noch genauso verwundert die Augen auf. Felicia kam sich ihr gegenüber uralt vor.
Als sie ihre Mutter wiedersah, war Felicia entsetzt. Elsa war immer zart gewesen, aber jetzt schien sie geradezu zerbrechlich. Durch ihr dunkles Haar zogen sich graue Strähnen. »Felicia«, flüsterte sie, »bist du wirklich zurück?«
Felicia legte beide Arme um sie, aber anstatt Ruhe und Geborgenheit zu finden, meinte sie, einen dünnen kleinen Vogel in den Händen zu halten.
Den Hafen, den sie gesucht hatte, fand sie hier nicht.
»Mutter, jetzt wird alles gut. Ich bin wieder da!«
Elsa lächelte, doch es war ein gebrochenes, angestrengtes Lächeln.
»Ich habe gewußt, daß du noch lebst.«
»Hast du keinen meiner Briefe bekommen?«
»Keinen.« Elsa sah zu Kat und Nicola hin. »Nicola«, sagte sie erstaunt, »wie groß du geworden bist!«
Nicola sah aus wie ein verschrecktes kleines Kaninchen.
»Warum ist Nicola hier? Wo sind Belle und ihr Mann?«
Felicia drückte Elsas Hand. Nicola schluchzte auf und flüchtete in Kats Arme. Elsas Lippen zuckten. »Nein... nicht
Belle...«
»Tuberkulose, Mutter... Wir haben alles getan, aber... wir mußten fliehen, und wir hatten nichts Richtiges zu essen für sie...«
»Belle...« sagte Elsa. Sie lauschte dem Klang dieses Wortes nach, und vor ihren Augen erstand das Bild einer Frau, schön, lebhaft und lachend, einer Frau, die für eine ganze Generation, eine Epoche, eine Lebensweise stand. Was war aus ihrer Welt geworden?
»Belle«, wiederholte sie noch einmal. Dann sah sie ihre Tochter an. »Und Julius?«
»Wir wissen es nicht. Er wurde während der Februarrevolution verhaftet. Seither...«
»Sie waren so schön, die beiden, so glücklich.«
»Das waren sie, Mutter.« Felicias Nerven waren gespannt. Elsa zwang sie, gerade das zu tun, was sie nie wieder hatte tun wollen: stehenbleiben und hinsehen. Gleich würde sie von Vater reden.
Da kam es auch schon. »Vater war doch schnell tot, nicht wahr?«
»Auf der Stelle, Mutter. Er hat keine Sekunde gelitten«, log Felicia.
»Ich habe damals einen sehr freundlichen Kondolenzbrief aus dem Kriegsministerium bekommen. Vater muß bis zuletzt aufopferungsvoll als Arzt seine Pflicht getan haben.«
Hat er, dachte Felicia bitter, und ein Brief an die Witwe ist der Dank des Vaterlandes. Aber sicher bedeutete der Brief viel für Elsa. Sie konnte sich vorstellen, wie sie ihn Nacht für Nacht las, bis das Papier dünn und knitterig wurde. »Er war der beste Arzt«, sagte sie, »jeder wußte das.« Sie richtete sich auf. Gott mochte ihr vergeben, aber sie konnte jetzt nicht mehr davon reden, weder von dem glühendheißen Tag in Galizien noch von dem fiebererfüllten Krankenzimmer Belles.
»Es ist kalt hier«, sagte sie, »warum brennt kein Feuer im Ofen?«
»Wir haben keine Kohlen«, erwiderte Linda piepsig.
»Gar keine Kohlen? Aber ihr müßt doch Bezugsscheine bekommen?«
»Schon. Aber dann ist immer schon alles weg.«
Felicia seufzte. »Ich nehme das jetzt in die Hand. Ich werde Kohlen beschaffen.
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