Sturmzeit
worden, auf denen man für fünf Pfennige sitzen und das Leben und Treiben ringsum beobachten konnte. Trotz des regnerischen Februarwetters hatten vereinzelt Leute Platz genommen; graue Gestalten, die so aussahen, als könnten sie das Leben nur noch ertragen, wenn sie es inmitten von rauschendem Verkehr, Stimmengewirr und Menschen verbrachten. Manche sahen so aus, als hätten sie seit mindestens drei Tagen keine anständige Mahlzeit mehr bekommen. Felicia dachte mit schlechtem Gewissen an ihren Champagner. Wohin sollte sie jetzt gehen?
Es drängte sie keineswegs danach, jetzt schon in die Schloßstraße zurückzukehren. Benjamin mußte inzwischen angekommen sein, und Felicia konnte keine Vorfreude auf ihn und die beiden Kinder empfinden. Aber sie hatte ja den Vertrag in der Tasche, und jedes Knistern des Papieres durchzuckte sie wie ein elektrischer Funke. Heute und morgen Familie, gut, sie würde es schon aushalten, und Benjamin sollte die Tage als glücklich im Gedächtnis behalten, dazu war sie fest entschlossen. Dann ging es nach München - ach, Wolff würde staunen, und sie fieberte der Arbeit förmlich entgegen! Neue Entwürfe, neue Modelle, neue Kunden und viel Geld! Sie hob den Kopf, hielt ihn dem kalten Februarwind entgegen. Champagner und das prickelnde Gefühl des Erfolges hoben sie auf leichte Schwingen und schienen sie vom Boden fortzutragen. Nach einer Sekunde des Zögerns beschloß sie, noch irgendwo einen Kaffee zu trinken, und winkte einem Taxi. Bei Kranzler traf sie Sara und deren Mutter. Die beiden Frauen saßen einander gegenüber und hatten verweinte Augen. Saras Gesicht trug den Ausdruck verzweifelter Entschlossenheit. Felicia wollte nicht stören, aber Sara klammerte sich geradezu an sie und beschwor sie zu bleiben. Unbehaglich nahm Felicia Platz und bestellte sich einen Kaffee. Wie sie erwartet hatte, dauerte es keine fünf Minuten, und sie war in die akuten Probleme der Familie Winterthal eingeweiht: Sara plante, ihre Mutter zu verlassen und in einer anderen Stadt ein neues Leben zu beginnen.
»Wissen Sie, Felicia, ich kann das nicht verstehen«, sagte Frau Winterthal ratlos, »ich bin der einzige Mensch, den Sara auf dieser Welt hat. Sie hatte immer Schwierigkeiten mit anderen Menschen. Mir wird himmelangst, wenn ich sie mir in einer fremden Stadt vorstelle.«
»Mutter, mir wird himmelangst, wenn ich daran denke, mein ganzes weiteres Leben in unserer alten Wohnung zu verbringen«, entgegnete Sara mit ungewohnter Heftigkeit, »es ist sinnlos, verstehst du das nicht? Ich sitze herum und lebe von Vaters Pension. Das kann doch nicht alles sein!«
»Bin ich nichts?« Diese Worte wurden begleitet von einem Tränenstrom. Natürlich konnte sich nun auch Sara nicht mehr zurückhalten. »Du bist alles für mich, Mutter«, schluchzte sie,»aber ich möchte dorthin, wo ich gebraucht werde. Von vielen Menschen gebraucht werde. So wie in Frankreich!«
»Was möchtest du denn tun?« fragte Felicia sachlich. Sara sah sie dankbar an. »Ich würde gern in einem Krankenhaus arbeiten. Oder in einem Kinderheim. Oder in einer Armenküche. Ich möchte etwas für andere tun, etwas schaffen, organisieren... mit beiden Beinen im Leben stehen!«
Felicia sah sie nachdenklich an. Und irgend etwas willst du vergessen, dachte sie, einen Schmerz, der dich seit langem begleitet.
»Ich hätte eine Idee«, sagte sie plötzlich, »warum kommt Sara nicht wieder nach München? Sie findet dort bestimmt Arbeit, und ich könnte mich um sie kümmern!«
»Wirklich?« fragten Sara und ihre Mutter wie aus einem Mund.
»Natürlich«, versicherte Felicia, »es würde mir selber viel Spaß machen.« Sie redete das nicht nur so dahin, sie würde Sara tatsächlich gern in ihrer Nähe haben. Sara war treu, ehrlich und durch und durch verläßlich. Seitdem sie sich in der Geschäftswelt bewegte, von Alex verlassen worden war und mit dem zwielichtigen Tom Wolff zusammenarbeitete, hatte Felicia gelernt, solche Eigenschaften zu schätzen. Es konnte nicht schaden, einen Menschen zu haben, dem sie rückhaltlos vertrauen konnte.
Sie stand auf und zählte ein paar Münzen neben ihre leere Kaffeetasse. »Ich fahre übermorgen nach München zurück. Ruf mich an, Sara, wenn du nachkommst.« Sie nickte den beiden Frauen zu, ehe sie das Café verließ. Frau Winterthal sah ihr nach.
»Eine merkwürdige junge Frau«, stellte sie fest, »vom einen Mann geschieden, und mit dem zweiten scheint es auch nicht recht gutzugehen. Ich hielt sie schon
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