Sturmzeit
zu vernachlässigen.
4
Mascha Iwanowna hatte immer gewußt, daß eines Tages ihr Leben umstürzen würde. Die düsteren Prophezeiungen ihrer Mutter, die ihrer Tochter von klein auf gesagt hatte, es werde ein schlimmes Ende mit ihr nehmen, mochten dazu beigetragen haben. »Du hast fanatische Augen, Mascha, und alle Fanatiker richten sich irgendwann selber zu Grunde. Das liegt in ihrer Natur.«
Mascha kannte den fanatischen Zug in ihrem Wesen und ihre Neigung, das Verderben herauszufordern, wenn es die Sache verlangte. Als junges Mädchen hatte sie ihre Schulfreundinnen damit schockiert, daß sie die Ansicht verfocht, ein Mensch sei erst dann wertvoll, wenn er bereit sei, für seine Überzeugung zu sterben. Ihre Freundinnen, die allesamt gar keine Überzeugung hatten, erklärten Mascha insgeheim für verrückt.
»Eines Tages«, sagten sie, »wird sie furchtbar auf die Nase fallen. Und sie ist dann selbst schuld daran.«
Die Stunde, da alle Wahrsagungen Wirklichkeit werden sollten, kam in den frühen Morgenstunden des dritten Januar 1922. Die drei Männer der Geheimpolizei erschienen gegen fünf Uhr, als es noch dunkel war und die meisten Leute schliefen. Ein paar Arbeiter auf dem Weg zur Frühschicht sahen das schwarze Auto in die Straße biegen, anhalten und die Männer entlassen, dunkel gekleidet und mit tief in die Gesichter gezogenen Hüten. Die Arbeiter gingen rasch weiter. Maksim öffnete verschlafen die Tür, als die Männer laut polternd anklopften. Sie drängten ihn sofort zurück, drangen in die Wohnung und schlossen die Tür hinter sich. Einer von ihnen hielt Maksim seinen Ausweis vor. »Geheimpolizei. Wir möchten zu Maria Iwanowna Laskin.«
»Sie schläft«, erklärte Maksim kalt. Natürlich wußte er um die Lächerlichkeit dieser Auskunft, aber es war ein Versuch, etwas Würde zu bewahren. Der Wortführer verzog keine Miene.
»Bitten Sie Frau Laskin, aufzustehen und sich anzuziehen. Wir werden hier im Gang warten.«
»Darf ich erfahren, was gegen sie vorliegt?«
»Wir haben nur den Auftrag, sie zum Verhör zu bringen.«
»Wohin?«
»Keine Auskunft. Sorgen Sie jetzt dafür, daß Frau Laskin mit uns kommt.«
Maksim ging ins Schlafzimmer zurück. Mascha war längst aufgewacht und hatte alles mitangehört. Sie streifte sich gerade ein Kleid über und schlüpfte in ihre Winterstiefel. Flüchtig kämmte sie sich vor dem Spiegel zweimal über die Haare. »Ich muß ein paar Sachen mitnehmen«, sagte sie, »ich fürchte, so schnell komme ich nicht wieder. Würdest du mir Zahnbürste, Waschlappen und Handtuch einpacken?«
»Es ist nur ein Verhör. Heute mittag schon...«
Mascha lächelte mitleidig. Sie war sehr blaß. »Hör mal, mein Lieber, für ein kurzes Verhör schicken die einem nicht um fünf Uhr morgens die Geheimpolizei ins Haus. Ich bin eben jetzt dran.«
Maksim war noch blasser geworden als sie. »Mascha, was meinst du damit? Weißt du denn, was gegen dich vorliegen könnte?« Da er keine Anstalten machte, ihre Sachen zu packen, schob sie ihn sanft zur Seite und suchte selbst zusammen, was sie brauchte. »Ich stehe schon seit einiger Zeit auf der schwarzen Liste, das habe ich gemerkt. Und nun ist es soweit.«
»Aber...«
»Aber ich bin eine so treue Genossin?« Mascha nahm ein paar Haarnadeln vom Tisch und steckte ihre Haare auf.
»Schon Robespierre wurde von den eigenen Leuten getötet.«
»Das ist doch vollkommen verrückt!« Maksim fuhr sich mit fünf Fingern durch die Haare. »Ich werde dafür sorgen, daß du den besten Anwalt bekommst, der in ganz Petrograd aufzutreiben ist. Ich werde...«
»Natürlich, Maksim. Es wird alles gut.« Sie hob sich auf Zehenspitzen, küßte seine Wangen. »Mach dir bitte keine Sorgen. Was immer mein Weg ist, ich habe ihn von Anfang an akzeptiert.«
Sie öffnete die Tür, trat in den Gang, wo die drei Männer wie unbewegliche, dunkle Schatten warteten. Maschas Stimme klang nicht im mindesten verändert, als sie zu ihnen sagte: »Guten Morgen, Genossen. Ich bin fertig. Wir können gehen.«
Der Anwalt, den Maksim noch am selben Tag engagierte, fand schnell heraus, daß man Mascha in die Peter-und-Pauls-Festung gebracht hatte. Als er Maksim davon informierte, fügte er hinzu:
»Sie wird dort aber nicht bleiben. Sie soll in das Gefängnis von Butyrki gebracht werden.«
»Wie ist dieses Gefängnis?«
»Nicht gerade ein Sanatorium. Aber welches Gefängnis ist das schon?«
Maksim, der, die Hände in den Hosentaschen, im Zimmer auf und ab ging und
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