Sturmzeit
die Haustür öffnete und wieder schloß. Nachdenklich zog sie die Augenbrauen hoch. Am Morgen war sie Stadelgruber und Breitenmeister auf dem Gang begegnet, nun Carvelli. Wolff schien sämtliche führenden Persönlichkeiten der Münchener Modewelt bei sich aufmarschieren zu lassen. Eine Ahnung sagte ihr, daß nichts Gutes dahinterstecken konnte. Kurz überlegte sie, ob sie zu ihrem Vater gehen sollte, verwarf aber diesen Einfall wieder. Der kranke Severin durfte nicht aufgeregt werden. Nein, die einzige, die jetzt... Kat lief hinunter. Das Telefon befand sich in der Halle. Während sie auf das Amt wartete, lauschte sie angstvoll nach oben. Sie betete darum, Wolff möge nicht gerade jetzt aus dem Zimmer kommen. Endlich meldete sich das Amt. Kat sprach mit gedämpfter Stimme. »Verbinden Sie mich bitte mit einer Nummer aus dem Landkreis Insterburg, Ostpreußen.« Sie nannte die Nummer.
»Einen Moment bitte«, klang es gelangweilt zurück. Kat wartete. Oben rührte sich noch immer nichts. Nervös trat sie von einem Bein auf das andere. Schließlich erklang die Stimme wieder. »Tut mir leid. Unter der von Ihnen genannten Nummer besteht kein Anschluß.«
»Das kann nicht sein.«
»Ich bekomme jedenfalls keine Verbindung.«
Verärgert hängte Kat den Hörer auf. Entschlossen stülpte sie ihren Hut über den Kopf und griff ihre Handtasche. In der Haustür traf sie auf Nicola und Martin.
»Ich gehe zum Telegraphenamt«, erklärte sie kurz, »wenn Wolff nach mir fragt, ihr habt keine Ahnung, wo ich bin.«
»Ist Wolff etwa schon wieder hier?« fragte Nicola. »Ich warte ja nur auf den Tag, an dem er ganz und gar hier einzieht. Er benimmt sich sowieso schon wie der Hausherr.« Sie und Martin traten in die Halle. Im selben Moment klingelte das Telefon. Das Fräulein vom Amt meldete ein Gespräch aus Berlin an. Es war Sara, die der etwas verwirrten Nicola ihr Kommen ankündigte.
Benjamin pilgerte jeden Tag zum Grab seiner Mutter, und jeden dritten Tag tat Felicia ihm pflichtschuldig den Gefallen mitzukommen. Susanne Lavergne war auf dem Familienfriedhof am Ende des Parks beigesetzt worden, und Benjamin machte aus der steingeschmückten Stätte seinen persönlichen Altar. Er brachte Blumen, fegte Laub und Gras beiseite, betete, weinte, lag stundenlang auf den Knien. Wenn er zurückkehrte, glich sein Gesicht einer zerbrochenen Maske. Er hatte immer eine bedenkliche Neigung zur Melancholie gehabt, die nun, unmerklich zunächst, aber unaufhaltsam, in eine Depression überging. Er hatte den einzigen Menschen verloren, der wie eine eherne Schildwache zwischen ihm und dem Leben gestanden hatte, und nun fühlte er sich wie ein Kind, das im Dunkeln allein gelassen wird und in der Finsternis schreckliche Gefahren vermutet.
Felicia, die für ihre Schwiegermutter nichts übrig gehabt hatte, fiel es schwer, die Trauer zu zeigen, die von ihr erwartet wurde. Natürlich hatte Susannes plötzlicher Tod sie erschreckt. Doch sie wußte, daß die alte Frau abends zu Bett gegangen und am nächsten Morgen dort tot aufgefunden worden war, und insgeheim fand sie dies zum einen für eine Frau in Susannes Alter nicht allzu ungewöhnlich, zum anderen die Art des Todes ein Herzversagen - außerordentlich angenehm. Natürlich hütete sie sich, das auszusprechen. Sie hatte vorgehabt, drei Tage nach der Beerdigung wieder nach München zu fahren, diesen Plan jedoch angesichts Benjamins Lethargie und Wehmut fallengelassen. Er trottete hinter ihr her, ein weiteres Kind, aber hilfloser, schwächer, empfindsamer, als es Belle und Susanne je sein würden. Mit leisem Grauen dachte Felicia: Dieser Mann könnte am Ende noch eine wirkliche Last werden. Er ist schlimmer als ein Kind. Er ist wie ein... Kranker... Der alte, eiserne Druck von Skollna legte sich über sie, machte sie gereizt und unglücklich. Sie suchte wie früher Zuflucht in Lulinn, aber auch dort fand sie keine Ruhe. Lulinn barg die Erinnerung an eine Zeit, die vergangen war und traurig durch Staub und Schutt hinüberlächelte, zu fern, als daß man sie noch hätte berühren können. Die alten, langen Sommer kamen nicht wieder. Wirklichkeit waren jetzt eine Reihe von Gräbern, eine langsam dahinwelkende Laetitia, ein mit den Jahren immer feister werdender Victor, der mit der deutschen Rechten sympathisierte, Gertrud, die sich ein Gallenleiden zugezogen hatte und quittengelb in die Gegend sah. Modeste war seit Januar verlobt mit einem bleichen, unscheinbaren Kaufmannssohn aus Insterburg, dessen
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