Sturmzeit
fragte sie. Laetitia hob den Kopf. »Nein, ich...« Dann sprach auch sie nicht weiter, ihre Augen wurden groß, mit jeder Faser ihres Körpers schien sie auf etwas zu lauschen, was dort draußen war. Ihre Augen begegneten denen Felicias, und Felicia las darin den stummen Befehl, daß, was immer nun geschähe, Großvater sich um keinen Preis aufregen durfte. Felicia schluckte trocken. Sie lehnte sich wieder hinaus, fühlte die Sonne auf ihrem Gesicht und gab sich für einen Moment der trügerischen Vorstellung hin, es sei nur einer von hundert anderen sonnigen Ferientagen und Benjamin käme die Allee entlang, um sie zum Schwimmen oder Tennisspielen abzuholen. Aber es war nicht Benjamin, es war kein Ferientag. Es war Krieg, und zwischen den Eichen im Schatten der Blätter und Zweige tauchten Reiter auf. Bajonette blinkten in der Sonne. Es waren keine deutschen Uniformen, die diese Männer trugen.
Mit zitternden Händen schloß Felicia das Fenster; die Scheiben klirrten leise. Ihr Mund fühlte sich trocken und pelzig an. Mit fremder, rauher Stimme sagte sie: »Soldaten kommen. Es sind...« In ihren Augen stand wilde Angst. Großmutters stahlharter Blick traf sie schneidend. Mühsam setzte sie fort:
»Es sind recht viele.«
Ferdinand schlug die Augen auf. »Soldaten?«
»Deutsche Soldaten«, sagte Laetitia unbekümmert, »sie wollen sich hier ausruhen und einen Schluck Wasser trinken. Ich werde hinuntergehen und sie willkommen heißen.« Sie wollte aufstehen, doch Ferdinands klauenähnliche, lange Finger umklammerten ihre Hände mit rücksichtsloser Härte. »Nein«, befahl er mit einem Anflug seiner einstigen Rauheit, »du bleibst bei mir. Ich mache es nicht mehr lange, und der Teufel soll mich holen, wenn ich in den letzten Minuten meines Lebens allein bleiben muß.«
Laetitia lächelte beruhigend. »Ich bleibe. Felicia...«
Felicias Augen weiteten sich. »Ich? Aber...« Sie biß sich auf die Lippen. Sie dachte an alles, was Laetitia ihr vorhin gesagt hatte, und begriff nun, welchem Zweck diese Unterhaltung hatte dienen sollen. Laetitia hatte sie nicht ablenken, sie hatte ihr Kraft geben wollen.
»Wir sind mutig und verantwortungsbewußt, wir verteidigen, was wir lieben.«
Ihre Knie zitterten, ihr Gesicht war weiß, aber so ruhig wie möglich, damit Großvater nichts merkte, ging sie zur Tür. Sie hörte die Pferde über den Hof traben, vernahm helles Wiehern und eine scharfe Stimme, die einen unverständlichen Befehl brüllte. Jemand hämmerte gegen die Haustür, stieß sie entschlossen auf. Schwere Stiefel trampelten über die Steinplatten in die Halle.
Felicia fürchtete, ihr würde übel werden. Nie im Leben hatte sie sich so sehr gefürchtet. »Ich gehe schon«, sagte sie. Sie verließ das Zimmer, ging den Flur entlang. Als sie die Treppe erreichte, hob sie den Kopf. Ohne Hast kam sie die Stufen hinab.
Die russischen Soldaten waren vor allem daran interessiert, etwas Eßbares aufzutreiben. Von Beginn des Krieges an war der Nachschub ihr größtes Problem gewesen. Die Transportwege waren lang und umständlich, und die Russen konnten dasdeutsche Schienennetz nicht benutzen, da die Deutschen keine Züge zurückgelassen hatten und die russischen Züge auf einer anderen Spurbreite fuhren.
Von der Bevölkerung war der größte Teil in die westlich gelegenen Städte Ostpreußens geflohen und hatte leere Höfe zurückgelassen. Nun, da sich François' Truppen zurückgezogen und nach Süden begeben hatten, wo der russische General Samsonow mit seinen Truppen an den masurischen Seen stand, ließ Rennenkampf, der die erste russische Armee befehligte und inzwischen Schwierigkeiten hatte, die Lage zu überblicken, seine Truppen westwärts ziehen und hatte täglich mit Versorgungsschwierigkeiten zu kämpfen.
Die Russen hatten bereits Jadzias Speisekammer bis auf den letzten Krümel ausgeräumt und machten im Hof Jagd auf die Hühner und Gänse. Eine Abteilung hatte Haus und Hof sogleich umzingelt und jeden Winkel nach versteckten deutschen Soldaten abgesucht. Einige andere warfen sich gerade erschöpft auf Sofas und Sessel und streckten die Beine weit von sich. Ein junger Offizier, das Gewehr in der Hand, ging zur Treppe und schickte sich an, die Stufen hinaufzusteigen.
Überrascht blieb er stehen, als er Felicia erblickte. Sie hielt sich mit einer Hand am Geländer fest, mit der anderen faßte sie sich eine Sekunde lang nervös an den Hals, ehe sie sie sinken ließ. Sie hatte nicht einen Schatten von Farbe im
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