Sturmzeit
Haus. Der Leutnant ging als letzter, blieb in der Tür stehen und hob grüßend die Hand. »Auf Wiedersehen, Madame. Schade, daß wir im Krieg sind, nicht?«
Felicia nickte ihm zu. Kaum war er draußen, sank sie auf die nächste Treppenstufe nieder, barg das Gesicht in den Händen und lauschte dem rasenden Schlag ihres Herzens. Das Rauschen in ihren Ohren mischte sich mit dem Hufgetrappel der davontrabenden Pferde.
Sie hob den Kopf.
Der Nachmittag war wieder still und heiß, er duftete nach Klee und Jasmin und war erfüllt vom Summen der Bienen. Sie sind fort, dachte Felicia, sie sind tatsächlich fort! Sie fühlte sich so schwach, daß sie am liebsten sitzengeblieben wäre und in die wundervolle Ruhe gelauscht hätte, aber dann fiel ihr Laetitia ein, und eilig sprang sie auf. Sie mußte ihr gleich sagen, daß alles gutgegangen war und sie sich nicht länger zu fürchten brauchte. Ihre nackten Füße tappten über den Gang.
»Großmutter!« rief sie. »Großmutter...« Laetitia kam ihr an der Tür zum Schlafzimmer entgegen, müde, mit blassem Gesicht. Sie streckte Felicia die Hand entgegen, und zu ihrem Schrecken bemerkte Felicia, daß diese Hand zitterte. Erschrocken fragte sie: »Was ist? Warum zitterst du? Alles ist vorbei!«
»Ja«, erwiderte Laetitia leise, »alles ist vorbei.«
Felicia blickte hinüber zu Großvaters Bett, das zerwühlt war wie ein Schlachtfeld. Sie stieß einen erschrockenen Seufzer aus,und ihre Großmutter nickte langsam. »Ja. Großvater ist gestorben.«
Staubbedeckt, übermüdet und hungrig kamen sie in Königsberg an. Felicia hatte das Gefühl, daß es keinen Knochen mehr in ihrem Körper gab, der nicht schmerzte, so sehr hatte sie die Fahrt in dem ungefederten Leiterwagen über holprige Feldwege durchgeschüttelt. Am schlimmsten war es mit ihren Armen, die so wehtaten, daß sie hätte weinen mögen. Stunde um Stunde hatte sie die Zügel gehalten und die beiden müden Pferde vorangetrieben. Sie mußte dabei ständig daran denken, daß
Großvater ihr als Kind das Kutschieren beigebracht hatte, und bei der Erinnerung daran stiegen ihr unaufhaltsam die Tränen in die Augen und liefen ihr über die Wangen. Sie schluckte krampfhaft, um es zu verbergen, aber Laetitia, die mit einem gewaltigen schwarzen Strohhut auf dem Kopf neben ihr auf dem schwankenden Kutschbock saß, wandte sich ihr zu und sagte:
»Wein ruhig, Kind. Das erleichtert.«
Es hatte nur dieser Aufforderung bedurft, und Felicias Tränen strömten wieder. »Ach, Großmutter, es ist alles so schrecklich!
Ich hatte ihn so lieb.«
»Ich weiß. Ich habe ihn schließlich auch geliebt.«
»Ja, du auch. Ihr habt so sehr zusammengehört. Er war alles für dich, und...«
»Oh, er war nicht die große Liebe meines Lebens«, unterbrach Laetitia.
Felicia starrte sie an. »Nein?«
»Nein, gewiß nicht. Es gab einen anderen, aber... nun, das ist sehr lange her. Aber ganz sicher bin ich...« Sie hielt inne, ihr Gesicht trug einen versonnenen Ausdruck, während sie um Jahre und Jahrzehnte zurückblickte in eine Zeit, die sehr fern war und in der sie so jung gewesen war wie Felicia heute, »ganz sicher bin ich glücklich gewesen mit ihm.«
Sie hatten einen Landarbeiter aufgetrieben, der ihnen einen Sarg aus Insterburg besorgt und ein Grab auf dem Familienfriedhof ausgehoben hatte, und einen Pfarrer, der sich vor den Russen in seinem Haus verbarrikadiert hatte, auf Laetitias inständige Bitten hin sich aber bereit erklärte, nach Lulinn zu kommen und die Totenmesse zu lesen. Felicia und ihre Großmutter standen im Schatten der Fichten, die um den Friedhof herum wuchsen, und waren die einzigen Trauergäste. Felicia dachte daran, welch eine pompöse Zeremonie das in Friedenszeiten gewesen wäre und wie sehr Großvater dieses schlichte, eilige Begräbnis gegrämt hätte. Sie warf ihm einen flammendbunten Strauß Rosen auf den Sarg; sie hatte sie wild durcheinander gepflückt, leuchtend gelbe, schneeweiße, zartrosafarbene und samtig rote. Die Rosen waren Ferdinand Dombergs Stolz gewesen, ebenso wie die Pferde, die Eichenallee und sein guter Name. Trotz allem war es tröstlich, daß Ferdinand hier auf Lulinn hatte sterben dürfen und nun unter seinen Kiefern ruhte.
Auf dem Weg zurück zum Haus hakte sich Großmutter bei Felicia unter und sagte: »Wir fahren nach Königsberg. So schnell wie möglich.«
»Es gehen keine Züge mehr.«
»Wir haben Pferd und Wagen.«
»Wir können doch Lulinn nicht im Stich lassen.«
Laetitia blieb
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