Sturmzeit
Franzosen saßen, von denen noch keiner wußte, ob sie im Ernstfall mit Rußland gehen würden. Und Felicia war im Ostenauf Lulinn, und Gott mochte wissen, was jetzt dort geschah. Alle empfanden es als Erleichterung, als um fünf Uhr ein Offizier vor das Schloßportal trat und die Mobilmachung verkündete. Einige Sekunden lang standen die Menschen wie erstarrt, dann stimmte jemand einen Choral an, und alle fielen ein. »Nun danket alle Gott« klang es feierlich aus tausend Kehlen über den hellen Platz unter strahlend blauem Sommerhimmel. Viele Leute hatten Tränen in den Augen; auf allen Gesichtern, alten oder jungen, lag derselbe Ernst, dieselbe bedingungslose Bereitschaft. Nur Elsa weinte nicht, noch sang sie. Sie dachte an ihre Kinder und hätte schreien mögen. Wie die Lämmer zur Schlachtbank wollten diese Menschen in den Krieg trotten und jubelten dabei noch!
Elsa hatte Linda und Sara, die beide schluchzten, jede an eine andere Hand genommen und mit sich fortgezogen.
»Kommt, wir müssen sehen, was wir für Felicia tun können«, sagte sie. Sie rannte beinahe durch die Straßen, ohne darauf zu achten, daß sie in ihrem engen Korsett kaum atmen konnte. Linda keuchte hinterher, und Sara weinte, nunmehr nicht aus Kriegsenthusiasmus, sondern weil ihre Schuhe drückten. Ein schneidiger junger Offizier hielt im Auto neben ihnen und schrie: »Mobilmachung!« Eine ältere Frau brach unter hysterischem, patriotischem Geschrei zusammen. Eine andere wies urplötzlich auf einen Mann, der vor einem der angeschlagenen Extrablätter stand, und brüllte: »Der ist ein russischer Spion! Ich weiß es. Haltet ihn!« Und schon stürzten sich ein halbes Dutzend Bürger auf ihn und schlugen ihn zu Boden.
Wie die Wahnsinnigen benahmen sie sich.
Elsa schwindelte es.
Die Leute schienen zu allem bereit, zu kämpfen, zu töten und notfalls glanzvoll zu sterben. Im Taumel der Begeisterung verblaßte die Angst, wurde der Gedanke an den Tod zu einemheroischen Erlebnis.
Schreiend, singend und jubelnd fielen sie einander um den Hals und fühlten sich einig und stark.
Als sich Elsa aus dem Telegraphenamt hinaus wieder auf die Straße drängte, war sie den Tränen nahe. Sie schrak zusammen, als Linda plötzlich ausrief: »Oh, da ist ja Alex Lombard!«
Sie drehte sich um und erblickte einen gutaussehenden Mann, der seinen eleganten Seidentafthut zog und sich so formvollendet verbeugte, als seien sie bei einem Empfang und nicht auf einem menschenüberfüllten Platz mitten in Berlin. Linda übernahm die Vorstellung: »Alex Lombard, ein Freund meines Bruders. Frau Degnelly, Johannes' Mutter. Und Sara, eine Freundin.«
Alex und Elsa gaben einander die Hand. Elsa betrachtete ihn und fühlte sich irgendwie an eine müde Katze erinnert, deren Trägheit einzig der Einschläferung ihrer Feinde und der Schonung ihrer Muskeln für den entscheidenden Schlag dient.
»Feiern Sie auch Deutschlands Erhebung gegen seine Feinde?« fragte er ironisch und warf dabei Linda ein Lächeln zu, das sie einen Schritt zurückweichen ließ.
»Ach, gar nichts feiern wir«, erwiderte Elsa verzagt, »meine Tochter Felicia ist noch in Ostpreußen, und ich muß, ich muß ihr einfach telegraphieren, daß sie sofort kommen soll.«
»Wieso ist sie denn immer noch da oben?«
»Weil sie das eigensinnigste Mädchen ist, das ich kenne. Sie hatte es sich in den Kopf gesetzt und nun... und sie lassen mich nicht telegraphieren, weil nur das Militär...«
»Keine Sorge. Da oben erfahren sie vom Kriegsausbruch ebenso schnell wie wir hier, und dann wird sie sich auf den Weg machen. Im übrigen«, Lombard lachte leise und dachte an das Bild, das ihn so gefesselt hatte, »im übrigen wird Felicia sicher auch mit den Russen fertig!«
Keine der drei Frauen bemerkte die Sorge in seinem Lächeln. Sie sahen nur den schönen Mund und die blitzenden Augen und dachten, daß er doch ein ziemlicher Leichtfuß sei.
»Aber«, fuhr er fort, »wenn es Sie beruhigt, werde ich ein Telegramm aufgeben. Verschlüsselt.«
Schon nach wenigen Minuten kehrte er zurück, ungerührt und ohne Hast. »Alles in Ordnung. Felicia wird in den Schoß der Familie zurückkehren.«
Er hakte sich bei Linda und Sara unter. »Meine Damen, darf ich Sie in ein Café einladen? Es ist ein schöner Sommertag, und wir sollten etwas Hübsches unternehmen.«
»Mir... ist nicht danach«, meinte Elsa unbehaglich. Alex Lombard gefiel ihr nicht besonders gut, aber immerhin hatte er ihr sehr geholfen. Sie sah sich voller
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