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Sturmzeit

Sturmzeit

Titel: Sturmzeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Link Charlotte
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stehen. »Doch, das können wir. Wir sind wegen Großvater geblieben, und der braucht uns jetzt nicht mehr. Außerdem haben wir überhaupt nichts mehr zu essen. Und vor allem wissen wir nicht, was hier noch geschieht, und ich habe mir geschworen, dich niemals wieder solchen Gefahren auszusetzen. Wenn ich daran denke, was alles hätte geschehen können...« Sie schauderte. »Nein, wir fahren!«
    Es gelang ihnen, an den russischen Truppenvorbeizukommen, ohne auch nur einem Soldaten zu begegnen.
    Sie hatten keine Ahnung, wo die Armee stand, daher benutzten sie vorsichtshalber die verstecktesten Schleichwege, die natürlich am schwierigsten zu befahren waren. Sie kamen an kleinen plätschernden Nebenflüssen der Pregel vorbei, an stillen Wiesen und wogenden Kornfeldern, und an viele Orte hatte Felicia Erinnerungen, die ihr plötzlich weh taten. Hier, in diesem Bach, hatte sie sich einmal die Füße gekühlt bei einem Ausritt mit Christian und Jorias, sie hatten am Ufer gesessen und den Atem der Pferde in ihrem Nacken gefühlt. Dort hatte sich Linda während einer Wanderung den Fuß verstaucht, als sie einmal einen Sommer auf Lulinn verlebte. Auf einmal schien es Felicia, als sei das alles schon lange her. Irgendwann - sie wußte selber nicht genau, wann - hatte das Leben eine andere Richtung eingeschlagen. Die alte Zeit nahm schon den melancholischen Anstrich der Vergangenheit an, die nur noch im Gedächtnis existiert.

    Königsberg quoll über von Menschen. Viele Flüchtlinge kampierten in Hotels und Pensionen und versammelten sich auf Straßen und Plätzen, warteten auf die neuen Extrablätter, diskutierten, fragten, fluchten und überschrien einander. War Prittwitz zu Recht gegen Ludendorff ausgetauscht worden? Was sollte man vom alten Hindenburg halten? Gott möge geben, daß es endlich irgend jemandem gelänge, die verdammten Russen von deutschem Boden zu verjagen! Ein dicker Polizist mit wichtiger Miene schlug eine neue Bekanntmachung an einen Baum, und sofort war er umlagert von Menschen. Die belgische Stadt Löwen von deutschen Soldaten besetzt, verkündete das Blatt, und als Überschrift prangten die Worte des Generals v. Kluck: Wir werden die Belgier lehren, Deutschland zu respektieren!
    »Nicht nur die Belgier!« schrie ein Mann und erntete damit allseits begeisterte Zustimmung. »Die ganze Welt wird es begreifen, daß sie mit uns nicht schlittenfahren kann!« Allejubelten. Laetitia drückte ihren Hut tiefer ins Gesicht. »Ich begreife nicht, weshalb der deutsche Patriotismus so derb sein muß. Man sieht immer unwillkürlich die alten Hunnen vor sich!« Sie brachten ihr Gefährt vor dem Hotel Berliner Hof zum Stehen, denn hier hatten Tante Gertrud und Modeste absteigen wollen. Felicia hatte nicht die geringste Neigung, den beiden boshaften Weibern zu begegnen; sie wußte, sie würde ihnen alle zehn Fingernägel in die drallen Gesichter schlagen, wenn in ihren kleinen, wimpernlosen Augen die heimliche Freude über Großvaters Tod aufleuchten würde. Nein, jetzt drängte es sie so schnell wie möglich nach Hause. Hier wurde ihr die Welt zu finster, sie brauchte jetzt ihre Mutter, die sie tröstete, ihren Vater, der ihr versicherte, daß sie ein tapferes Mädchen sei. Sie wollte alles Vertraute wiedersehen, denn hier war das Vertraute jäh zerstört worden.
    Sie sprang vom Wagen und übergab die Zügel einem herbeieilenden Hoteldiener. »Großmutter, ich gehe zum Bahnhof«, sagte sie entschlossen, »ich will sehen, ob nicht noch ein Zug nach Berlin geht. Willst du mitkommen?«
    »Nein, das wäre nicht gut«, meinte Laetitia, »wenn sich die Lage hier soweit beruhigt hat, daß wir nach Lulinn zurück können, sollen nicht Victor, Gertrud und Modeste allein dort ihren glanzvollen Einzug halten. Irgend jemand von der alten Garde muß ihnen auf die Finger sehen.«
    »Soll ich...«
    »Nein. Das schaffe ich allein.« Laetitia reichte ihrer Enkelin die Reisetasche. »Hier, nimm die gleich mit. Aber wenn kein Zug geht, dann kommst du zurück. Verstanden? Und laß dich nicht mit fremden Männern ein. Es sind mir ein bißchen viele Soldaten in der Stadt.«
    »Ich gebe schon acht!« Felicia küßte die welke Haut der alten Frau, roch den vertrauten Duft nach Veilchen und Seife und spürte den festen Druck ihrer Hände. »Vielleicht sollte ichdoch...« meinte sie zweifelnd, doch Laetitia schüttelte den Kopf.
    »Geh nur. Der Sommer ist vorüber«, sagte sie, und etwas in ihrer Stimme ließ Felicia schaudern. Mit ihrer Tasche

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