Sturmzeit
ständig im Schützengraben lag und an keinem Morgen wußte, ob es noch einen Abend für ihn geben würde, und die Braut sich mit keuschen Küssen und Feldpostkarten begnügen mußte, beständig damit rechnend, daß sie den Mann, den sie liebte, vielleicht niemals wiedersehen würde. Die Menschen, die an den alten Formen festhalten wollten, besorgte Väter, mißtrauische Mütter und alte Tanten, fochten tapfer, aber - vergeblich. Der Krieg hatte die Welt auf den Kopf gestellt, an jedem Tag starb ein Stück Vergangenheit, die Zukunft konnte kein Versprechen geben, was blieb, war die Gegenwart, das winzige, befristete Stückchen Zeit, das jedem von ihnen zugeteilt war und keine Sicherheit bot.
»Wir müssen deinen Vater um Erlaubnis bitten«, sagte Phillip, »du bist erst sechzehn. Er wird vielleicht nicht begeistert sein.«
»Er wird es erlauben. Sonst erinnere ich ihn daran, daß meineMutter auch nicht älter war, als sie ihn heiratete.«
Phillip stand auf. »Ich gehe zu ihm und spreche mit ihm. Hör mal, Liebling, es wird dir bestimmt nie etwas ausmachen, daßich zehn Jahre älter bin als du?«
»Glaubst du, das wäre wichtig? Wie alt du bist und wie alt ich? So wie du bist, bist du der Mann, den ich liebe, und alles, was ein Teil von dir ist, ist ein Teil dessen, was ich liebe.« Sie sah ihm nach, als er davonging, dann lehnte sie sich behaglich zurück und nahm einen Schluck von ihrem Sekt.
Sie fand das Leben sehr aufregend, sehr unkompliziert - und sehr schön. Sie gab sich träumerischen, bunten Gedanken hin, tauchte erst aus ihnen auf, als eine scharfe Stimme von der Tür her fragte: »Herr Lombard? Sind Sie es?«
Jolanta, natürlich! Sie tauchte immer dann auf, wenn jemand ganz allein sein wollte. Kat drehte sich um. »Nein, ich bin es. Was gibt es denn?«
»Ein Telegramm für Ihren Vater. Möchte wissen, wo er steckt!« Jolanta blickte sich argwöhnisch um, konnte aber, entgegen ihrer Erwartung, nicht einen Schatten von Phillip entdecken. Düster betrachtete sie Kats verzückten Gesichtsausdruck. »Also, ich muß schon sagen, ich finde...«
begann sie, unterbrach sich jedoch gleich wieder, weil von weit her ein leises Läuten zu hören war. »Schon wieder jemand an der Hintertür! Dabei ist es bald Mitternacht. Sind wir denn ein offenes Haus für jedermann? Ja, ja, ich geh schon. Fanny und die anderen Mädels sind verschollen. Drücken sich wahrscheinlich im Ballsaal herum und machen den Soldaten schöne Augen!« Schimpfend eilte sie davon. Ihr schwante nichts Gutes, ganz und gar nicht. Kat hatte ausgesehen, als sei ihr der heilige Geist begegnet, und sie wollte jede Wette eingehen, daßsie nicht die ganze Zeit allein dort unten gesessen hatte.
Sara war den ganzen Abend an der Seite eines jungen Soldatengeblieben, der im Rollstuhl saß und dort auch zeitlebens sitzen würde, weil ihm eine französische Granate beide Beine zerfetzt hatte. Er sah müde und melancholisch aus und betrachtete das fröhliche Treiben ringsum mit einer Resignation, die Sara schlimmer schien als Bitterkeit und Zorn. Gegen Mitternacht schlief er erschöpft ein, und die Schwester, die ihn begleitet hatte, rollte ihn davon. Sara stand auf und ging zu Felicia, die soeben einen langweiligen Tänzer unter dem Vorwand, sie müsse sich die Nase putzen, abgeschüttelt und sich zu Linda gesellt hatte, die bei den Matronen in der Ecke saß.
»Felicia! Linda!« rief Sara. Eine fremde Begeisterung glühte in ihren Augen, und ihre sonst bleichen Wangen hatten sich gerötet. »Soll ich euch sagen, welcher Einfall mir gekommen ist?«
»Welcher denn?«
»Es gibt einen Platz, wo wir viel dringender gebraucht werden als hier beim... beim Strümpfestricken und Verbände aufwickeln«, ein scheuer Blick flog zu Auguste, »wir sollten an die Front gehen - als Schwestern!«
»Ach, guter Gott!« Felicia war entsetzt. Das kam nun davon. Den ganzen Abend über schon hatte sie den Eindruck gehabt, daß Saras Gesicht mehr und mehr den Ausdruck eines Engels annahm, während sie neben dem verletzten Soldaten kauerte.
»Ich kann nicht«, sagte Linda schnell, »du weißt, das Kind...«
»Aber Felicia könnte doch. Und Kat!«
»Das ist wirklich ein guter Einfall«, meinte Clara Carvelli,
»Felicia, ich finde, Sie sollten zustimmen!«
»Aber...« Das hatte ihr noch gefehlt. Wieder kam ihr der Lazarettzug ins Gedächtnis, die endlose Fahrt von Königsberg nach Berlin, und voller Grauen dachte sie: Nein! Niemals wieder. Ich will mit dem Krieg und mit
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