Sturmzeit
plötzlich in einem Meer von Krümeln zu stehen, auf das die anderen Gäste mit indignierten Mienen starrten, rührte keiner mehr etwas an, sondern beteuerte mit hungrigen Augen, völlig satt zu sein. Felicia hatte wenig Skrupel; zu diesem Schluß war Wolff gekommen, als er sie das erstemal in diesem Haus getroffen hatte, und die Erkenntnis kam ihm heute wieder. Er fand sie keineswegs sympathisch, denn er witterte in ihr dieselbe Willenskraft und den unverbrauchten Eigensinn, über die er selbst verfügte, und wie jeder sehr ehrgeizige Mensch liebte er es nicht, seine Stärken in anderen Menschen zu entdecken. Aber obwohl sie aus jener Gesellschaftsklasse stammte, die er so haßte, und obwohl sie zweifellos noch ein sehr törichtes junges Ding war, empfand er für sie nicht die Verachtung, die der Rest der lustigen Gesellschaft an diesem Abend in ihm hervorrief. Sie alle kamen ihm vor wie eine Schar aufgedrehter, degenerierter, eingebildeter Snobs, die in einem bereits reichlich angeschlagenen Schiff über ein stürmisches Meer fuhren und die, sollte dieses Schiff kentern, mit staunenden Augen und zu einem Oh geöffneten Mündern untergehen würden.
Zieh ihnen die Planken unter den Füßen weg, und sie gehen alle zum Teufel, sagte er sich immer wieder.
Aber Felicia - die würde sich einen Rettungsring zu greifen wissen. Ein Orkan konnte ihr im Innersten nichts anhaben - das begriff er mit demselben Instinkt, mit dem er taugliche junge Pferde und Rinder von solchen unterschied, die husten und lahmen würden, ehe sie zwei Jahre alt waren.
Er schlenderte heran und grüßte grinsend. »Guten Abend, Frau Lombard. Wie geht's?«
Sie sah auf, aus tiefen Gedanken erwachend, wie ihm schien.
»Ach, Sie sind es«, sagte sie zerstreut, »hat Kat Sie eingeladen?«
Die Frage traf ihn wie eine Ohrfeige, aber er konnte seinem Gesicht blitzschnell jenen maskenhaften Ausdruck geben, den er sich angewöhnt hatte, um zu verschleiern, was er wirklich dachte. Seine Zeit war noch nicht gekommen. »Einladungen waren auf dem schwarzen Markt erhältlich«, erwiderte er. Tatsächlich hatte er verdammt viel Geld hingeblättert, um eine zu bekommen, und Marian Carvelli, Clara Carvellis Schwägerin, hatte ihm ihre auch nur gegeben, weil er ihr zusätzlich Buttermarken abtrat, die sie für ihre tuberkulosekranke Tochter brauchte. »Kat ist mir jedes Opfer wert«, fügte er hinzu. Felicia lächelte ironisch, ein Lächeln, das ihre Augen unberührt ließ. Guter Gott, sie war wahrhaftig nicht sein Typ, aber sie hatte Augen, die einen Mann bis in die Träume verfolgen konnten.
»Sie sollten Kat nicht mehr allzu viele Opfer bringen«, sagte sie kalt, »ich fürchte, es lohnt sich nicht.« Sie ließ die restlichen Brösel ungeniert auf den Boden fallen und ging davon. Er blickte ihr nach, aber der Zorn, der ihn überfiel, war diesmal nicht mit blindem, schmerzhaftem Haß gepaart, sondern mischte sich mit einer grimmigen, erwartungsvollen Freude. Irgendwann, dachte er, haben wir beide noch einmal unser ganz persönliches Duell. Und das wird mir mehr Spaß machen als das langweilige Abschlachten der anderen Salonratten!
»Du wirst mich doch heiraten, Kat?« Die Frage klang hastig und beinahe ängstlich. Kat lächelte. »Natürlich.«
Phillip seufzte erleichtert. »Würdest du... ich meine, könntest du dir vorstellen, daß wir heiraten, bevor ich wieder an die Front muß? Also noch in dieser Woche?«
»Ob ich es mir vorstellen kann? Ich will es, Phillip! Ich würde dich jetzt in dieser Minute heiraten, wenn es möglich wäre!«
Sie sahen einander an. Sie hatten den Ballsaal verlassen, und es war ihnen gelungen, an den wachsamen Augen Jolantas vorbei hinunter in den Wintergarten zu gelangen, wo sie nun auf einem Sofa aus geflochtenem Bambusrohr saßen. Kat hatte sich die dunklen Haare heute ganz aus dem Gesicht gestrichen und trug sie in einem schweren, dicken Knoten. An den Ohren blitzten goldene Ringe, die ihrer verstorbenen Mutter gehört hatten. Mit der ungewohnt strengen Frisur sah sie älter aus als sonst, zugleich gab ihr das einfache weiße Kleid etwas Kindliches und Unschuldiges.
Sie ist ja erst sechzehn, rief sich Phillip ins Gedächtnis. Für gewöhnlich wäre eine solch überstürzte Heirat ganz undenkbar gewesen. Aber die Zeiten hatten sich seit Kriegsausbruch geändert.
Was als unumgänglich notwendig und wichtig gegolten hatte, verlor seinen Sinn. Wozu lange werben, wozu eine endlose Verlobungszeit, wenn der Bräutigam doch nur
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