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Sturz der Tage in die Nacht

Sturz der Tage in die Nacht

Titel: Sturz der Tage in die Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Antje Rávic Strubel
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hattest dein Kind.«
    Annegret sagte nichts. Der Vereinsvorsitzende lief mit einer Kiste leerer Flaschen vor dem Fenster vorbei.
    »Ist das alles, was du mir zu sagen hast, Erik?«
    »Das sollte ich dich fragen.«
    Wieder schwieg sie.
    »Was wirst du jetzt machen?«, fragte sie schließlich.
    »Nichts. Ich bin auf dem Weg nach Hause.«
     
    Ich muss zu Hause sein, bevor Annegret etwas aus den Zeitungen erfährt. Die überregionalen Blätter wird dieser kleine Skandal nicht erreichen, und Annegret wird nicht plötzlich eine Brandenburgische Lokalzeitung kaufen oder den
rbb
einschalten. Annegret hat immer den
Nordkurier
gelesen. Aber ein Nachbar könnte mich in der Zeitung sehen oder einer ihrer Kunden bei der Post. Sie würden ihr nichts davon sagen. Sie würden es sie nur merken lassen. Das entlarvende Foto ihres Sohnes, eine passende Schlagzeile, das würde reichen, um diese Leute die Straßenseite wechseln zu lassen, wenn sie meine Mutter kommen sehen. Es würde reichen, um sich nicht mehr von ihr, sondern am Schalter nebenan bedienen zu lassen. Sie würden Annegret nicht in die Augen schauen. Annegret kennt viele von ihnen mit Namen. Nur sie kennt auf einmal keiner mehr.
    Die Reporterin, die mir vor Inez’ Büro aufgelauert hatte, war ich vorübergehend losgeworden. Ich hatte ihr gesagt, sie solle gegen acht auf dem Plateau auf mich warten. Über die lange Abwesenheit ihres Pressereferenten oder die Abwesenheit von Inez schien sich keiner der Journalisten zu wundern. Vielleicht dachten sie, sie hätten schon alles im Kasten. Sie dachten, sie hätten die Geschichte fertig im Kopf, und brauchten nur noch ein paar O-Töne und Inselfeeling, was sie schon in Urlaubslaune zu versetzen schien. Oder Feldberg hatte sie auch darauf vorbereitetet. Entspannt bastelten sie an einem Laptop herum, um eine Internetverbindung herzustellen.
    Irgendwann wird ihnen auffallen, dass in der Gruppe einer fehlt. Dann gehen vielleicht die Alarmglocken an. Sie werden die Insel absuchen, um die Absturzstelle zu finden, und das kann dauern.
    Mir fiel schon mittags auf, dass etwas nicht stimmte. Inez kehrte nicht zurück. Ich konnte sie nirgendwo finden. Ich redete mir ein, sie hätte mit Feldberg etwas klären wollen und sich einen versteckten Ort gesucht. Ich fing an, mir Sorgen zu machen, und ging die Stellen ab, an denen ich mit Inez gewesen war, ich suchte sie sogar an dem kleinen verborgenen Strand. Ich dachte daran, dem Vereinsvorsitzenden Bescheid zu sagen. Ich wusste, dass er Inez gekündigt hatte. Aber solange sie auf seiner Insel war, hatte er auch die Verantwortung für ihr Leben.
    Erst am Nachmittag sah ich sie endlich am Hafen. Die Fähre hatte angelegt und würde über Nacht hier ankern. Inez stand neben dem Kapitän auf dem überdachten Deck. Sie rauchte. Die Kapuze hatte sie in den Nacken geschoben. Sie lehnte an der Reling, schnippte Asche in den Wind, als hätte sie das immer schon gemacht, und lachte. Sie wirkte gelöst.
    »Wo warst du?«, rief ich ihr zu. »Ist alles in Ordnung?«
    »Natürlich. Wieso denn nicht?«
    »Auf einmal haust du mit diesem Typen ab und sagst mir nicht mal –«
    »Scht«, machte Inez. »Es wäre schade drum. Schade um den Augenblick.«
    Sie lehnte an der Reling und schnippte Asche ins Meer, sie lachte, sie flirtete mit dem Kapitän. Ich hatte sie noch nie rauchen sehen, ich hatte sie noch nie so flirten sehen. Sie flirtete wie ein Mädchen. Sie kam über die Gangway zu mir gelaufen und schmiegte sich an meine Schulter. Sie schlang die Arme eng um mich. Ich bedrängte sie nicht. Die Reporterin hatte uns entdeckt und kam eilig auf uns zugelaufen, und es waren die letzten Stunden mit ihr.
    Heute morgen musste ich noch einmal ins Café. Ich ging durch den Kücheneingang, die Schiebetür zur Lounge stand offen, und ich sah Feldbergs Arzttasche neben einem der Tische auf dem Boden stehen. Feldberg selbst blieb verschwunden. Als die Reporterin aufstand und zum Büfett ging, wo der Vereinsvorsitzende sich einen Kaffee holte und anfing, mit ihr zu plaudern, nahm ich die Tasche. Ich weiß nicht, was mich trieb. Ich habe keine Ahnung, woher diese Idee kam oder was ich mit der Tasche wollte. Ich nahm sie einfach mit. Ich verabschiedete mich vom Koch, ging hinunter zum Hafen, der Fährmotor stampfte, Inez stand am Kai. Feldberg war bis zur Abfahrt der Fähre nicht aufgetaucht. Seit ich seine Tasche geöffnet habe, ist mir auch klar, warum.
    Ich habe die Tasche aufgemacht, als die Insel schon aus dem

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