Sturz der Tage in die Nacht
Blickfeld verschwunden war. Ich habe sie geöffnet, als es nichts mehr aufzuschieben gab, als ich mir nicht mehr vormachen konnte, es gebe nur mich und Inez und ich könne einfach weiterhin der sein, der ich war, bevor ich den Namen Felix Ton zum ersten Mal hörte, als alles mit voller Wucht über mir hereinbrach.
Es ist eine schlichte Tasche mit einem silbernen Schnappverschluss.
Auf den Innendeckel ist eine Widmung ins Leder geprägt:
Meinem lieben Rainer zur Jugendweihe
1968
.
Die Tasche enthielt Akten. Es sind keine Akten über Naturschutzgebiete oder Umweltschutz. Es sind jene Art von Berichten, von denen in der Presse seit der Wende viel die Rede war. Feldberg scheint sich sogar an die alte Form gehalten zu haben. Handschriftlich oder mit der Schreibmaschine hat er seitenweise Details angehäuft. Er hat Beobachtungen notiert, Gespräche aufgeschrieben. Es gibt Orts- und Zeitangaben und eine Übersicht über die Personen, mit denen er gesprochen hat. Am Rand der Blätter stehen Kommentare oder Ausrufezeichen, manchmal sind ein paar Buchstaben ausradiert oder Worte durchgestrichen. Alle Berichte sind mit
Operation Dohle
überschrieben.
Ich hatte diese Tasche völlig selbstverständlich an Bord geschafft.
Als der Kapitän in den Passagierraum kam und mich über den Akten sitzen sah, meinte er, die Ferien seien wohl endgültig vorbei. Draußen taucht die Mole auf. Der Hafen von Klintehamn ist zu sehen, der leere Parkplatz. Mir bleibt keine Zeit mehr. Und noch immer weiß ich nicht, was ich sagen werde, wenn ich zurück bin, wie meine Gegendarstellung aussehen soll, wie viel sich überhaupt erzählen lässt. Vieles ist mir immer noch unverständlich.
In
Operation Dohle
geht es um die Bundestagskandidatur von Felix Ton. Feldberg hat alles penibel aufgeschrieben, ihr gemeinsames Vorgehen, ihre Absprachen.
Die Formulierung
operatives Handeln
, die Ton offenbar für Feldbergs Ausflug nach Stora Karlsö verwendete, hat Feldberg unterstrichen. Dokumentiert sind außerdem eine Affäre mit der Sekretärin und die
Legende
, die Ton in den Medien verbreitet hatte. Im Wortlaut hat Feldberg das Gespräch zwischen ihm und Ton im August in seiner Potsdamer Wohnung notiert. Er musste ein Aufnahmegerät bei sich gehabt haben. Oder er hatte dafür gesorgt, dass sich in Tons Wohnung
Technik
befand, wie er dazu sagen würde. In einem älteren Bericht, der aussieht, als wäre er echt, eine Akte aus Vorwendezeiten, wird Tons Charakter beschrieben, sein
Leumund
, wie es mehrmals heißt. Ich habe noch nicht alles gelesen, aber was ich las, hat gereicht, um mir eines klarzumachen: Schreckliche Ereignisse brauchen immer noch schrecklichere Ereignisse zu ihrer Verharmlosung. Mir ist auch klar, dass Feldberg eine lange Liste von Journalisten abtelefoniert hatte. Er muss vorgehabt haben, eine ganze Kampagne zu organisieren. Aber nur drei waren ihm gefolgt. Er hatte die Journalisten nach dem Gespräch mit Felix Ton in der Schwimmhalle Am Schlaatz angerufen, offenbar ihrem letzten. Das Gespräch hatte Feldberg irritiert. Es hatte ihn aus der Bahn geworfen. Ton war zu diesem Zeitpunkt für ihn schon keine verlässliche Größe mehr. Ton war nur auf seinen Sohn aus.
Er war auf den
Besitz
seines Sohnes aus, ein Wort, das Feldberg den Gegensatz zu seinem eigenen Interesse zu verdeutlichen schien.
Er
war ein Schöpfer.
Er
befasste sich mit Möglichkeiten.
Er
konnte noch immer das passende Vokabular bereitstellen, die nutzbringenden Kontakte, selbst in seinen schwachen Momenten geriet er nicht vom Wege ab.
Ich höre ihn. Ich höre, wie er auf dem Weg zum Leuchtturm mit mir spricht. Sein Tonfall, sein Lachen, seine Hand auf meiner Schulter, an der er mich zurück zum Leuchtturm steuert.
Auch der Vereinsvorsitzende hat eine Akte. Er kommt darin als engagierter, aber naiver Mann rüber, der mit Frau und zwei Kindern in Hemse lebt. Und es gibt jede Menge Berichte über Guido. Die scheinen Feldberg besonderen Spaß gemacht zu haben. Jeder Spaziergang mit Guido am Strand ist mit Uhrzeit vermerkt, jede Unterhaltung wörtlich festgehalten, Unterhaltungen, aus denen hervorgeht, dass Guido eines nicht ertragen kann: Frauen, die ihm übergeordnet sind.
Ich sehe ihn vor mir in seiner blauen Kunstfellweste, wie er lässig ein Bein überschlägt. Er war nach Uppsala zurückgekehrt, als es den ersten Nachtfrost gab. In Feldbergs Beschreibungen bekommt das, was mir uncool erschien, eine neue Dimension. Guido scheint sich auf den Spaziergängen über den
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