Sturz der Tage in die Nacht
Klippen gehen. Das war gestern. Ich begreife es nicht. Ich hatte noch keine Zeit, darüber nachzudenken. Der Einbruch der Journalisten hat alles zerrissen und durcheinandergebracht. Inez war gestern eher aufgestanden als ich und hatte die Hütte verlassen. Sie hatte sich keinen Kaffee gemacht. Sie schien es eilig zu haben, und ich nahm an, sie müsse im Büro etwas regeln und würde dort Kaffee trinken. Beim Aufstehen trödelte ich. Ich öffnete ihren Kleiderschrank. Ich berührte ihre Blusen. Die rohseidene hielt ich mir ans Gesicht, ihre feine Glätte. Dem Schrank entströmte ein heller Duft, der Duft von Inez.
Ich ging zum Leuchtturm, um meine restlichen Sachen zu holen, und unterwegs sah ich, wie Inez und Rainer Feldberg zwischen den Wacholderbüschen verschwanden. Es war stürmisch. Ich dachte zuerst, ich hätte mich getäuscht. Es konnte nicht Inez sein. Inez hätte Feldberg nie auf ihre geliebten Vogelfelsen mitgenommen, sie hätte sich ihm noch nicht einmal genähert. Aber ich erkannte die Farbe ihrer Regenjacke, ihre Kapuze. Feldberg hatte einen Knirps dabei. Als er ihn aufspannte, überschlug sich das Gestänge. Der Sturm klappte den Stoff mit solcher Wucht nach oben, dass es den Schirm aus den Gelenken riss. Inez kümmerte sich nicht darum. Sie lief voran. Sie wirkte nicht so, als hätte Feldberg sie gezwungen. Er konnte kaum Schritt halten. Er kämpfte mit dem Schirm, schließlich warf er ihn in die Felsen.
Ich wollte ihnen hinterhergehen, überlegte es mir dann aber anders. Im Leuchtturm war es kalt. Ich packte meine Sommerklamotten in den Rucksack und legte das grasgrüne Top oben drauf, das ich aus Inez’ Schrank genommen hatte.
Stora Karlsö war wie verwandelt. Die Ankunft der Journalisten hatte mehrere Vereinsmitglieder herbeigelockt. Der Vereinsvorsitzende war mit seiner Jolle gekommen und hatte einen schwedischen Ornithologen mitgebracht, der Inez’ Posten auf der Insel im nächsten Jahr übernehmen sollte, und alle diese Leute saßen im Museum oder im Café herum, so dass der Koch, der die Außenanlagen bereits winterfest gemacht, die hölzernen Fensterläden abgeschlossen und den Kamin regensicher abgedichtet hatte, gezwungen war, die Notheizlampen aus dem Keller zu holen. Er stellte sie in der Lounge und im Restaurant auf, und auf diese Weise waren wenigstens zwei Räume warm.
Als ich am Café vorbeikam, hatten sie soeben das Frühstück beendet. Ich ging nicht hinein. Ich ging sofort zum Museum. Unbemerkt kam ich in Inez’ Büro und schloss von innen die Tür zu. Der Strom war noch nicht abgestellt worden, die Telefone funktionierten. Ich rief Annegret an.
»Sagt dir der Name Feldberg was?«
»Nein, das ist nicht wahr! Sollte es wirklich mein Sohn sein?«
»Mama«, sagte ich.
»Wo bist du?«
»Feldberg. Sagt dir das was?«
»Hat deine neue Freundin dich schon in die Voliere gesperrt?«
»Wieso?«
»Ich hör dich so schlecht, wenn du flüsterst.«
»Ich flüstere nicht. Ich bin auf dem Rückweg.«
»Das glaub ich erst, wenn ich dich sehe.«
»Sagt dir der Name Feldberg was?«
»Jetzt hör mir mal zu, mein Sohn. Ich hab seit Menschengedenken nichts von dir gehört. Aber statt zu fragen, wie es deiner alten Mutter geht und ob du sie überhaupt bei einer ihrer seltenen Kosmetikstunden –«
»Rainer Feldberg.«
»Wo soll der denn auf einmal herkommen?«
»Das würde ich auch gern wissen.«
»Und da rufst du mich an.«
»Ja.«
»Weil du glaubst, dass ich ihn kenne.«
»Ja.«
»Also gut. Ich weiß, wer das ist. Dürfte ich nun erfahren, was da vor sich geht?«
»Mir geht’s gut. Es ist alles gut.« Nach einer Pause sagte ich: »Du hast dir von einem Stasi-Typen ein Kind vermitteln lassen.«
»Wenn das so ist, bin ich wahrscheinlich nicht die Einzige gewesen.«
»Er wusste, dass du ein Kind willst.«
Annegret schwieg. Dann sagte sie ruhig: »Natürlich wusste er das. Ich habe ja auf den Familiengeburtstagen nie ein Hehl daraus gemacht. Und eines Tages sagte dieser Clown von Cousin, er hätte da vielleicht was aufgetrieben. Ich weiß nicht mehr, ob mütterlicher- oder väterlicherseits.«
»Und es war dir egal.«
»Ich kann mich nicht erinnern, dass
dich
die letzten Ecken und Winkel der Verwandtschaft bisher besonders interessiert hätten.«
»Verwandt mit der Stasi«, sagte ich. »Das war dir egal?«
»Politik wurde nur diskutiert, wenn die Männer zu viel intus hatten. Die Frauen räumten inzwischen das kalte Büfett ab.«
»Fressen, ficken, schlafen. Und du
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