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Sturz der Titanen

Titel: Sturz der Titanen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ken Follett
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eine solch delikate Angelegenheit nicht zur Sprache bringen. Stattdessen fragte er: »Seit wann bist du hier?«
    »Seit ein paar Minuten. Ich bin mit dem Nachtzug aus Paris gekommen. Was hast du mit dem Botschafter gemacht?«
    »Sir Edward Grey hat uns einbestellt.« Walter genoss den neidischen Ausdruck auf von Kessels Gesicht.
    »Und was hatte er zu sagen?«, fragte Otto.
    »Er hat eine Vier-Mächte-Konferenz vorgeschlagen, um zwischen Österreich und Serbien zu vermitteln.«
    »Zeitverschwendung«, bemerkte von Kessel.
    Walter ignorierte ihn und fragte seinen Vater: »Was hältst du davon?«
    Otto kniff die Augen zusammen. »Interessante Idee«, sagte er. »Grey ist geschickt.«
    Walter konnte seinen Enthusiasmus nicht länger verbergen. »Glaubst du, der österreichische Kaiser wird zustimmen?«
    »Auf keinen Fall.«
    Von Kessel kicherte.
    Walter war am Boden zerstört. »Aber warum nicht?«
    »Nehmen wir einmal an«, antwortete Otto, »die Konferenz legt eine Lösung vor, und Österreich lehnt sie ab. Was dann?«
    »Das hat Grey bedacht. Er hat gesagt, Österreich sei nicht verpflichtet, die Empfehlung der Konferenz zu übernehmen.«
    Otto schüttelte den Kopf. »Natürlich nicht. Aber was dann? Wenn Deutschland an der Konferenz teilnimmt, die diesen Lösungsvorschlag unterbreitet, und Österreich lehnt unseren Vorschlag ab – wie sollen wir die Österreicher dann noch unterstützen, wenn sie in den Krieg ziehen?«
    »Das wäre nicht möglich.«
    »Eben. Und damit dürfte klar sein, was Grey mit diesem Vorschlag erreichen möchte: Er will einen Keil zwischen Deutschland und Österreich treiben.«
    »Oh.« Walter kam sich dumm vor, nicht selbst darauf gekommen zu sein. Sein Optimismus verflog. Verzweifelt fragte er: »Wir werden Greys Friedensplan also nicht unterstützen?«
    »Nie im Leben«, antwortete Otto.

    Sir Edward Greys Vorschlag ging ins Leere, und so schauten Walter und Maud hilflos zu, wie die Welt mit jeder Stunde näher an den Abgrund rückte.
    Der nächste Tag war ein Sonntag. Walter traf sich mit Anton. Wieder einmal wollte alle Welt wissen, was die Russen tun würden. Die Serben hatten fast sämtlichen österreichischen Forderungen zugestimmt; nur die beiden härtesten Klauseln wollten sie noch einmal überdenken. Doch die Österreicher hatten dies als inakzeptabel erklärt, und so machte Serbien seine kleine Armee mobil. Es würde zu Kämpfen kommen. Die Frage war nun: Mischte Russland sich ein?
    Walter ging in die Kirche St.-Martin-in-the-Fields am Trafalgar Square, dem belebtesten Verkehrsknotenpunkt Londons. Die Kirche war ein Gebäude aus dem 18. Jahrhundert im palladianischen Stil, wie Walter inzwischen wusste. Seine Treffen mit Anton bescherten ihm nicht nur Informationen über die russischen Pläne, sondern auch Wissen über die Geschichte der englischen Architektur.
    Er stieg die Stufen hinauf und ging zwischen den hohen Pfeilern hindurch ins Kirchenschiff. Besorgt schaute er sich um. Wenn Anton ausgerechnet jetzt kalte Füße bekam, wäre es der denkbar schlechteste Moment. Doch seine Sorgen waren unbegründet: Das Kircheninnere wurde von großen venezianischen Fenstern am östlichen Ende erhellt, und Walter entdeckte Anton sofort. Erleichtert setzte er sich neben den rachsüchtigen Spion – ein paar Sekunden bevor der Gottesdienst begann.
    Wie immer sprachen sie nur, wenn gesungen wurde. »Der Ministerrat ist am Freitag zusammengekommen«, berichtete Anton.
    Das wusste Walter bereits. »Und was haben sie beschlossen?«
    »Nichts. Sie haben nur Empfehlungen abgegeben. Der Zar entscheidet.«
    Auch das wusste Walter. Ungeduldig fragte er: »Und was haben sie empfohlen?«
    »Dass vier russischen Militärbezirken gestattet werden soll, sich auf die Mobilmachung vorzubereiten.«
    Das war der erste Vorbote des Krieges. »Nein!«, rief Walter unwillkürlich. Die Sänger in seiner Nähe drehten sich zu ihm um und starrten ihn an. Mühsam beruhigte Walter sich wieder. »Hat der Zar zugestimmt?«
    »Er hat den Beschluss gestern ratifiziert.«
    Verzweifelt fragte Walter: »Und welche vier Bezirke sind es?«
    »Moskau, Kasan, Odessa und Kiew.«
    Während der Gebete rief Walter sich eine Karte von Russland ins Gedächtnis. Moskau und Kasan lagen in der Mitte des riesigen Landes, mehr als tausend Meilen von den europäischen Grenzen entfernt, Odessa und Kiew aber im Südwesten, nahe dem Balkan. Während der nächsten Hymne sagte Walter: »Sie machen gegen Österreich mobil.«
    »Es ist keine

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