Sturz der Titanen
halbe Welt«, erwiderte Maud und lächelte spöttisch.
Walter nahm sie in die Arme. »Und du kannst Ragtime spielen.«
»Das ist leicht, wenn man erst einmal den Rhythmus hat.«
»Genau das finde ich so schwer.«
»Du brauchst Unterricht.«
Walter flüsterte ihr ins Ohr. »Würdest du es mir beibringen?« Das Flüstern wurde zu einem Stöhnen, als sie ihn küsste, und danach sprachen sie längere Zeit nicht mehr.
Das alles geschah in den frühen Morgenstunden des 24. Juli, einem Samstag. Als Walter am nächsten Abend ein weiteres Dinner und einen weiteren Ball besuchte, hieß es gerüchteweise, die Serben würden sämtlichen österreichischen Forderungen nachkommen. Lediglich bei den Punkten fünf und sechs wollten sie das eine oder andere klargestellt wissen. Erneut keimte Hoffnung in Walter auf. Wenn die Serben so zu Kreuze krochen, konnten die Österreicher die Antwort unmöglich zurückweisen. Es sei denn natürlich, sie waren fest zum Krieg entschlossen.
Samstag, bei Tagesanbruch, legte Walter auf dem Nachhauseweg einen Zwischenstopp in der Botschaft ein, um sich zu notieren, was er im Laufe des Abends erfahren hatte. Er saß gerade an seinem Schreibtisch, als der Botschafter persönlich, Fürst Lichnowsky, in makellosem Anzug und grauem Hut erschien. Erschrocken sprang Walter auf, verneigte sich und sagte: »Guten Morgen, Durchlaucht.«
»Sie sind früh dran, von Ulrich«, bemerkte der Botschafter. Dann sah er Walters Abendgarderobe und verbesserte sich: »Oder ziemlich spät.« Trotz seiner Falten war Lichnowsky noch immer gut aussehend mit seiner geschwungenen Nase über dem Schnurrbart.
»Ich wollte mir nur rasch notieren, was ich letzte Nacht an Gerüchten gehört habe. Kann ich Ihnen zu Diensten sein, Durchlaucht?«
»Ich bin zu Sir Edward Grey bestellt worden. Sie können mich begleiten und Notizen machen – vorausgesetzt, Sie haben noch einen anderen Mantel griffbereit.«
Walter war hocherfreut. Der britische Außenminister war einer der mächtigsten Männer auf Erden. Natürlich hatte Walter ihn in der kleinen Welt der Londoner Diplomaten schon getroffen, hatte aber nie mehr als ein paar Worte mit ihm gewechselt. Nun, nach der für Lichnowsky typischen beiläufigen Einladung, würde er bei einem informellen Treffen zweier Männer zugegen sein, die über das Schicksal Europas mitentschieden.
Gottfried von Kessel wird gelb vor Neid, freute sich Walter, tadelte sich aber sofort für diesen nichtigen Gedanken. Das Treffen könnte sich als entscheidend erweisen. Im Gegensatz zum österreichischen Kaiser wollte Außenminister Grey keinen Krieg. Ob es in dem Gespräch darum ging, den Krieg zu verhindern? Grey war schwer zu durchschauen. In welche Richtung tendierte er? Sollte er gegen den Krieg sein, würde Walter ihn nach besten Kräften unterstützen.
Für Notfälle wie diesen hing hinter Walters Tür stets ein frischer Cutaway am Haken. Er zog seinen Abendfrack aus und knöpfte den Cutaway über der weißen Weste zu. Dann nahm er sich ein Notizbuch und verließ im Gefolge des Botschafters das Gebäude.
In der frühmorgendlichen Kälte gingen die beiden Männer durch den St. James’ Park. Walter erzählte seinem Vorgesetzten von dem Gerücht über die serbische Antwort auf Österreichs Ultimatum. Auch Lichnowsky hatte von einem Gerücht zu berichten. »Albert Ballin hat gestern Abend mit Winston Churchill diniert«, sagte er. Ballin, ein deutscher Großreeder, stand dem Kaiser sehr nahe, obwohl er Jude war. Churchill wiederum hatte das Oberkommando über die Royal Navy. »Ich würde zu gerne wissen, was die beiden sich zu sagen hatten.«
Offensichtlich fürchtete der Botschafter, der Kaiser könne ihn übergehen und den Briten via Albert Ballin Nachrichten zukommen lassen. »Ich werde versuchen, das herauszufinden, Durchlaucht«, sagte Walter, erfreut über die Gelegenheit, sich auszuzeichnen.
Sie betraten das Außenministerium, ein neoklassizistisches Gebäude, das Walter an eine Hochzeitstorte erinnerte. Sofort wurden sie in das prachtvolle Büro des Ministers geführt, das einen fantastischen Blick über den Park gewährte. Wir Briten sind das reichste Volk auf Erden, schien das Gebäude hinauszuschreien, und wir können mit euch anderen tun und lassen, was uns gefällt.
Sir Edward Grey war ein dünner Mann mit hagerem Gesicht. Er mochte keine Ausländer und reiste kaum einmal ins Ausland, was ihn aus britischer Sicht zum perfekten Außenminister machte. »Ich danke Ihnen, dass Sie
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