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Sturz der Titanen

Titel: Sturz der Titanen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ken Follett
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Mobilmachung«, erklärte Anton. »Es ist die Vorbereitung auf eine Mobilmachung.«
    »Das habe ich schon verstanden«, sagte Walter geduldig. »Aber gestern haben wir noch über einen Angriff Österreichs auf Serbien gesprochen, einen begrenzten Balkankonflikt. Heute reden wir über Österreich und Russland und einen paneuropäischen Krieg.«
    Die Hymne verhallte, und Walter wartete ungeduldig auf die nächste. Er war von einer frommen protestantischen Mutter erzogen worden, und es hatte ihm jedes Mal Gewissensbisse bereitet, Gottesdienste für seine nachrichtendienstliche Tätigkeit zu missbrauchen. Deshalb nutzte er die Zeit, ein kurzes Gebet zu sprechen und um Vergebung zu bitten.
    Als die Gemeinde wieder zu singen begann, fragte Walter: »Warum diese Eile, sich auf den Krieg vorzubereiten?«
    Anton zuckte mit den Schultern. »Die Generäle sagen zum Zaren: ›Jeder Tag Verzögerung verschafft dem Feind einen Vorteil.‹ Es ist immer dasselbe.«
    »Erkennen sie denn nicht, dass diese Art Vorbereitung die Kriegsgefahr erhöht?«
    »Soldaten wollen Kriege gewinnen, nicht vermeiden.«
    Die Hymne endete, und auch der Gottesdienst neigte sich dem Ende zu. Als Anton aufstand, hielt Walter ihn am Arm fest. »Ich muss Sie öfter sehen«, sagte er.
    Anton blickte ihn ängstlich an. »Das haben wir doch schon besprochen …«
    »Das ist mir egal. Europa steht am Rande eines Krieges. Sie reden von russischen Vorbereitungen auf die Mobilmachung in vier Bezirken. Was, wenn sie auch anderen Bezirken die Erlaubnis erteilen? Und wann wird aus diesen Vorbereitungen Ernst? Ich brauche tägliche Berichte. Stündlich wäre noch besser.«
    »Das Risiko kann ich nicht eingehen.« Anton versuchte, sich loszureißen.
    Walter verstärkte seinen Griff. »Wir treffen uns von nun an jeden Morgen in der Westminster Abbey, bevor Sie in Ihre Botschaft gehen. An der Poet’s Corner im südlichen Querschiff. Die Kirche ist so groß, dass niemand uns bemerken wird.«
    »Kommt gar nicht infrage.«
    Walter seufzte. Er würde dem Mann drohen müssen, was er niemals gerne tat, da es einen Rückzug des Spions bewirken konnte. Aber das Risiko musste er eingehen. »Wenn Sie morgen früh nicht dort sind, werde ich in Ihre Botschaft kommen und nach Ihnen fragen.«
    Anton wurde kreidebleich. »Das können Sie nicht tun! Man würde mich umbringen!«
    »Ich brauche diese Informationen. Ich versuche, einen Krieg zu verhindern.«
    »Und ich hoffe, es gibt Krieg«, konterte der kleine Schreiber mit hasserfüllter Stimme. »Ich hoffe, mein Land wird von der deutschen Armee dem Erdboden gleichgemacht.« Walter starrte ihn erstaunt an. »Ich hoffe, der Zar wird abgeschlachtet, und seine ganze Familie mit ihm! Ich hoffe, sie fahren in die Hölle, wie sie es verdient haben!«
    Er machte auf dem Absatz kehrt, eilte aus der Kirche und verschwand im Gewimmel auf dem Trafalgar Square.


    Jeden Dienstagnachmittag war Fürstin Bea zur Teestunde daheim. Dann kamen ihre Freundinnen, um über die Feste zu sprechen, auf denen sie zu Gast gewesen waren, und ihre Tagesgarderobe zur Schau zu stellen. Maud und Tante Herm mussten ebenfalls erscheinen, denn beide waren arme Verwandte, die von Fitz’ Großzügigkeit lebten. An diesem Tag fand Maud das Gespräch besonders geistlos, denn sie beschäftigte nur noch die Frage, ob es Krieg gab.
    Der Morgensalon in der Villa in Mayfair war modern eingerichtet, denn Bea kannte die neuesten Trends in Sachen Raumgestaltung. Zueinander passende Sessel und Sofas aus Bambus standen in kleinen Gruppen zusammen; dazwischen war genug Platz, dass die Leute sich umherbewegen konnten. Die Polsterbezüge zeigten ein malvenfarbenes, stilles Muster, der Teppich war hellbraun. Die Wände waren nicht tapeziert, sondern in einem ruhigen Beige gestrichen. Das typisch viktorianische Durcheinander aus gerahmten Fotografien, Nippes, Kissen und Vasen gab es hier nicht. Hier stellte man seinen Wohlstand nicht zur Schau, indem man die Zimmer mit allen möglichen Dingen vollstopfte. Maud gefiel es.
    Bea plauderte mit der Herzogin von Sussex; sie tratschten über die Mätresse des Premierministers, Venetia Stanley. Maud war der Ansicht, dass Bea sich lieber um ihren Bruder sorgen sollte: Wenn Russland in den Krieg zog, musste Fürst Andrej zum Militär. Doch nichts schien Beas Stimmung trüben zu können. Sie wirkte an diesem Tag sogar besonders gut gelaunt. Vielleicht hatte sie einen Liebhaber. In den höchsten Gesellschaftsschichten, wo viele Ehen arrangiert

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