Sturz der Titanen
gekommen sind«, sagte er höflich. Er war allein bis auf einen Schreiber mit einem Notizblock. Kaum hatten die Besucher Platz genommen, kam Grey auch schon auf den Punkt. »Wir müssen tun, was in unserer Macht steht, um die Lage auf dem Balkan zu beruhigen.«
Walter schöpfte neue Hoffnung. Das hörte sich gut an. Grey wollte keinen Krieg.
Lichnowsky nickte. Der Fürst gehörte der Friedensfraktion in der deutschen Regierung an. Er hatte ein scharf formuliertes Telegramm nach Berlin geschickt und darauf gedrängt, Österreich in die Schranken zu weisen. Er widersprach Walters Vater und anderen, die glaubten, je eher ein Krieg käme, desto besser sei es für Deutschland, weil dann verhindert würde, dass Frankreich und Russland weiter erstarkten.
Grey fuhr fort: »Was immer die Österreicher tun, es darf den Russen nicht so bedrohlich erscheinen, dass der Zar militärisch darauf reagieren muss.«
Ganz meine Meinung, pflichtete Walter ihm stumm bei.
Auch Lichnowsky schien diese Ansicht zu teilen. »Sie haben den Nagel auf den Kopf getroffen, wenn ich es so ausdrücken darf, Herr Außenminister.«
Doch Grey war nicht anfällig für Komplimente. »Mein Vorschlag lautet wie folgt: Sie und ich, also Deutschland und Großbritannien, sollten die Österreicher gemeinsam bitten, das Ultimatum zu verlängern.« Nachdenklich schaute er auf die Uhr an der Wand: Es war kurz nach sechs am frühen Morgen. »Die Österreicher haben eine Antwort für heute Abend um sechs verlangt, Belgrader Zeit. Sie können sich schwerlich weigern, den Serben noch einen weiteren Tag einzuräumen.«
Walter war enttäuscht. Er hatte gehofft, Grey habe einen Plan, die Welt zu retten. Dieses Hinausschieben nutzte gar nichts, zumal die Österreicher nach Walters Einschätzung inzwischen so sehr auf den Krieg brannten, dass sie die eine deutsch-englische Bitte um Aufschub vermutlich zurückweisen würden.
»Eine ausgezeichnete Idee«, sagte Lichnowsky. »Ich werde es mit besonderer Empfehlung umgehend an Berlin weiterleiten.«
»Danke«, sagte Grey. »Sollte es scheitern, habe ich einen weiteren Vorschlag.«
Walter erschrak. Offenbar war Grey keineswegs davon überzeugt, dass die Österreicher den Serben mehr Zeit einräumten.
Grey fuhr fort: »Ich schlage vor, dass Großbritannien, Deutschland, Italien und Frankreich sich gemeinsam als Vermittler in diesem Konflikt anbieten. Sie könnten sich zu einer Vier-Mächte-Konferenz treffen, um eine Lösung auszuarbeiten, die Österreich zufriedenstellt, ohne Russland zu bedrohen.«
Das war schon mehr nach Walters Geschmack.
»Natürlich würde Österreich im Vorfeld niemals erklären, sich an die Beschlüsse einer solchen Konferenz zu halten«, fuhr Grey fort, »aber das ist auch nicht nötig. Wir könnten den österreichischen Kaiser jedoch bitten, wenigstens so lange nichts zu unternehmen, bis die Konferenz zu einem Ergebnis gekommen ist.«
Walter hätte am liebsten gejubelt. Die Österreicher würden schwerlich einen Plan ablehnen können, der von ihren Verbündeten und ihren Feinden kam.
Auch Lichnowsky machte einen zufriedenen Eindruck. »Ich werde es Berlin mit Nachdruck empfehlen.«
Grey sagte: »Ich danke Ihnen sehr, dass Sie so früh am Morgen zu mir gekommen sind.«
Lichnowsky wertete diese Bemerkung als Hinweis, dass er entlassen war, und stand auf. »Es war mir ein Vergnügen«, sagte er. »Werden Sie heute nach Hampshire fahren?«
Greys Freizeitbeschäftigungen waren das Fliegenfischen und die Vogelbeobachtung, und in seinem Landhaus am Fluss Itchen in Hampshire war er stets am glücklichsten.
»Heute Abend, hoffe ich«, antwortete er. »Wir haben wunderbares Angelwetter.«
»Ich hoffe, Sie haben einen erholsamen Sonntag«, sagte Lichnowsky.
Auf dem Weg zurück durch den Park sagte er zu Walter: »Diese Engländer sind wirklich erstaunlich. Europa steht am Rande eines Krieges, und der Außenminister geht angeln.«
Walter war hocherfreut. Grey schien keinen Sinn für die Dringlichkeit der Situation zu haben, war aber der Erste gewesen, der eine machbare Lösung vorgeschlagen hatte. Walter war ihm mehr als dankbar. Ich werde Grey zu meiner Hochzeit einladen und ihm in meiner Rede persönlich danken, beschloss er.
In der Botschaft traf Walter zu seinem Erstaunen seinen Vater an.
Otto von Ulrich winkte Walter in sein Büro. Gottfried von Kessel war ebenfalls dort. Walter hätte seinen Vater am liebsten sofort wegen Maud zur Rede gestellt, doch im Beisein von Kessels wollte er
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