Sturz der Titanen
Monika, das ist Gus Dewar, Berater von Präsident Woodrow Wilson.«
»Es freut mich, Sie kennenzulernen, Mr. Dewar«, sagte Monika. »Ich werde die Herren jetzt allein lassen.«
Walter schaute ihr mit einer Mischung aus Schuld und Bedauern hinterher. Für einen Moment hatte er vergessen, dass er verheiratet war.
Dann drehte er sich wieder zu Gus um. Er hatte den Amerikaner auf Anhieb gemocht, als sie sich in Ty Gwyn zum ersten Mal begegnet waren. Gus sah seltsam aus mit seinem großen Kopf auf dem langen, dünnen Leib, aber er besaß einen außergewöhnlich scharfen Verstand. Damals war er frisch aus Harvard gekommen und hatte eine charmante Schüchternheit an den Tag gelegt, doch nach zwei Jahren im Weißen Haus hatte er deutlich an Selbstbewusstsein zugelegt. Der formlose Schnitt seines Anzugs, wie die Amerikaner ihn bevorzugten, stand ihm ausgezeichnet. »Ich freue mich, Sie zu sehen«, sagte Walter. »Nicht viele Leute machen dieser Tage Urlaub hier.«
»Ich bin eigentlich nicht auf Urlaub hier«, erwiderte Gus.
Walter wartete, dass der Amerikaner weitersprach. Als er schwieg, hakte er nach: »Weshalb dann?«
»Sagen wir, ich stecke den Zeh ins Wasser, um zu sehen, ob es warm genug für den Präsidenten ist.«
Es war also halboffiziell. »Verstehe.«
»Um gleich auf den Punkt zu kommen …« Gus zögerte erneut, und Walter wartete geduldig. Schließlich fuhr Gus mit leiser Stimme fort: »Präsident Wilson möchte, dass die Deutschen und die Alliierten Friedensverhandlungen einleiten.«
Walters Puls beschleunigte sich, doch skeptisch hob er die Augenbraue. »Er hat Sie geschickt, um mir das zu sagen?«
»Sie wissen ja, wie das ist. Der Präsident kann eine öffentliche Zurückweisung nicht riskieren, weil es ihn schwach aussehen ließe. Natürlich könnte er unseren Botschafter hier in Berlin anweisen, mit Ihrem Außenminister zu sprechen. Aber dann würde das Ganze offiziell, und früher oder später würde es an die Öffentlichkeit gelangen. Also hat er seinen jüngsten Berater – mich – gebeten, nach Berlin zu gehen und meine Kontakte zu nutzen, die ich 1914 geknüpft habe.«
Walter nickte. In der Welt der Diplomatie geschah so etwas oft. »Wenn ich Sie abblitzen lasse, muss das niemand wissen.«
»Und selbst wenn es herauskommen sollte, haben zwei unbedeutende junge Männer bloß ein wenig Eigeninitiative gezeigt.«
Das ergab Sinn und erregte Walters Interesse. »Was genau will Mr. Wilson?«
Gus atmete tief durch. »Sollte der Kaiser den Alliierten eine Friedenskonferenz vorschlagen, wird Präsident Wilson ihn öffentlich unterstützen.«
Walter konnte seine Aufregung nur mit Mühe im Zaum halten. Dieses unerwartete Privatgespräch könnte die Welt verändern. War es wirklich möglich, den Albtraum in den Gräben zu beenden? Konnte er Maud vielleicht schon in Monaten wiedersehen, nicht erst in Jahren? Walter ermahnte sich, kühlen Kopf zu wahren. Das vorsichtige Ausstrecken halbdiplomatischer Fühler führte nur selten zu einem konkreten Ergebnis. Trotzdem war er enthusiastisch. »Das ist ein bemerkenswertes Angebot, Gus«, sagte er. »Sind Sie sicher, dass Wilson es auch so meint?«
»Absolut. Er hat es nach dem Wahlsieg als Erstes zu mir gesagt.«
»Und wo liegt sein Motiv?«
»Er will Amerika nicht in den Krieg führen, und es besteht noch immer die Gefahr, dass wir beteiligt werden. Der Präsident will den Frieden. Und er will eine neue internationale Ordnung, um sicherzustellen, dass es nie wieder zu einem solchen Krieg kommt.«
»Das wäre in aller Interesse«, sagte Walter. »Was soll ich tun?«
»Reden Sie mit Ihrem Vater.«
»Ihm könnte der Vorschlag nicht gefallen.«
»Dann müssen Sie Ihre Überzeugungskraft einsetzen.«
»Ich werde mein Bestes tun. Kann ich Sie in der amerikanischen Botschaft erreichen?«
»Nein. Das ist ein Privatbesuch. Ich wohne im Hotel Adlon.«
»Natürlich«, sagte Walter und lächelte. Das Adlon war eines der besten Hotels der Stadt, galt sogar als eines der luxuriösesten der Welt. Voller nostalgischer Gefühle dachte Walter an die letzten Friedensjahre zurück. »Ob wir jemals wieder die beiden jungen Männer sein werden, deren größte Sorge es war, die Aufmerksamkeit des Kellners zu erregen, um noch eine Flasche Champagner zu bestellen?«
Gus nahm die Frage ernst. »Nein. Diese Tage werden wohl nie wiederkommen … jedenfalls nicht zu unseren Lebzeiten.«
Walters Schwester, Greta, trat zu ihnen. Sie hatte lockiges blondes Haar, das sie auf
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