Sturz der Titanen
weiß es nicht.«
»Aber dieses Gemetzel an der Somme kann so doch nicht weitergehen.«
»Das liegt bei Gott allein.« Gus wechselte wieder das Thema. »Erzählen Sie mir, was es in Buffalo Neues gibt.«
Rosa schaute ihn offen an. »Wollen Sie auch von Olga hören, oder ist es Ihnen zu peinlich?«
Gus wandte sich ab. Was könnte peinlicher sein? Zuerst hatte er einen Brief von Olga bekommen, in dem sie die Verlobung aufgelöst hatte. Sie hatte sich demütigst entschuldigt, aber keine Erklärung dafür gegeben. Gus hatte das nicht akzeptieren wollen, zurückgeschrieben und verlangt, sie persönlich zu sehen. Er konnte es nicht verstehen; deshalb nahm er an, dass jemand sie unter Druck setzte. Doch später an jenem Tag hatte seine Mutter durch ihr Klatschweiber-Netzwerk herausgefunden, dass Olga den Chauffeur ihres Vaters heiraten sollte. »Aber warum?«, hatte Gus gequält gefragt, und seine Mutter hatte geantwortet: »Mein lieber Junge, es gibt nur einen Grund, warum ein Mädchen den Chauffeur heiratet.« Gus hatte sie verständnislos angestarrt, und schließlich war seine Mutter mit der Sprache herausgerückt: »Das Mädchen muss schwanger sein.« Es war der demütigendste Augenblick in Gus’ Leben gewesen, und selbst ein Jahr später zuckte er noch immer vor Schmerz zusammen, wenn er daran dachte.
Rosa konnte in Gus’ Gesicht lesen, was in ihm vorging. »Ich hätte sie nicht erwähnen sollen. Tut mir leid.«
Gus sagte sich, er könne genauso gut erfahren, was alle anderen ohnehin schon wussten. Sanft berührte er Rosas Hand. »Danke, dass Sie so offen sind. Das gefällt mir. Und ja, ich bin neugierig, was Olga betrifft.«
»Nun, sie haben in der russisch-orthodoxen Kirche an der Ideal Street geheiratet, und der Empfang hat im Statler Hotel stattgefunden. Sechshundert Leute waren eingeladen, und Joseph Vyalov hat den Ball- und den Speisesaal gemietet und jedem Kaviar serviert. Es war die prunkvollste Hochzeit in der Geschichte von Buffalo.«
»Wie ist Olgas Mann?«
»Er heißt Lew Peschkow. Ein gut aussehender und charmanter Bursche, aber ein Blick genügt, und man weiß, dass er ein Gauner ist. Und jetzt ist er der Schwiegersohn eines der reichsten Männer der Stadt.«
»Und das Kind?«
»Ein Mädchen, Darja, aber sie nennen sie Daisy. Sie ist im März geboren worden. Und Lew ist natürlich kein Chauffeur mehr. Ich glaube, er leitet jetzt einen von Vyalovs Nachtclubs.«
Sie sprachen eine Stunde miteinander; dann führte Gus sie nach unten und ließ ihr ein Taxi bestellen.
Früh am nächsten Morgen bekam Gus das Ergebnis aus Kalifornien per Telegramm. Wilson hatte mit 3777 Stimmen Vorsprung gewonnen. Er war als Präsident wiedergewählt worden.
Gus war außer sich vor Freude. Sie hatten vier weitere Jahre Zeit, ihre Ziele zu erreichen. In vier Jahren konnten sie die Welt verändern.
Gus starrte noch immer auf das Telegramm, als das Telefon klingelte.
Er nahm ab und hörte den Mann in der Vermittlung sagen: »Ein Anruf aus Shadow Lawn. Der Präsident will mit Ihnen sprechen, Mr. Dewar.«
»Danke.«
Einen Augenblick später hörte Gus die vertraute Stimme Wilsons. »Guten Morgen, Gus.«
»Ich gratuliere, Mr. President.«
»Danke. Packen Sie Ihre Koffer. Ich möchte, dass Sie nach Berlin fahren.«
Als Walter von Ulrich im Fronturlaub nach Hause kam, gab seine Mutter ein Fest für ihn.
Es wurden nicht mehr viele Feste in Berlin gefeiert. Selbst für eine wohlhabende Frau mit einflussreichem Mann war es schwer, genug Speisen für eine Festtafel zu bekommen. Außerdem ging es Susanne von Ulrich nicht gut: Sie war abgemagert und litt unter chronischem Husten. Aber sie wollte Walter unbedingt etwas Gutes tun.
Otto besaß einen erlesenen Weinkeller, den er vor dem Krieg angelegt hatte. Susanne entschied sich für einen Nachmittagsempfang, damit sie kein Abendessen auftischen musste. Sie servierte kleine Häppchen von geräuchertem Fisch und Käse auf Toast; den Mangel an Essen machte sie mit einem unbegrenzten Vorrat an Magnumflaschen Champagner wett.
Walter war ihr für ihre Mühen dankbar, aber ihm war nicht wirklich nach Feiern zumute. Er hatte zwei Wochen Fronturlaub, und er wünschte sich nur ein weiches Bett, trockene Kleidung und die Möglichkeit, den ganzen Tag im eleganten Salon des Stadthauses seiner Eltern herumzulungern, aus dem Fenster zu schauen, an Maud zu denken oder an seinem Steinway-Flügel zu sitzen und Schuberts »Frühlingsglaube« zu spielen: »Nun muss sich alles, alles
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