Sturz der Titanen
Mobilmachung die Grenze im Westen. Der Schlieffen-Plan war die einzig mögliche Lösung.« Wie üblich redete Otto, als hätte er einen Halbwüchsigen vor sich.
Walter erwiderte geduldig: »Ich weiß. Ich kann mich erinnern, wie du gesagt hast, das sei ein Verteidigungskrieg, die Antwort auf eine unerträgliche Bedrohung. Wir mussten Deutschland schützen.«
Falls Otto überrascht war, die üblichen Klischees, mit denen der Krieg gerechtfertigt wurde, aus dem Munde seines Sohnes zu hören, zeigte er es nicht. »Korrekt«, sagte er.
»Und wir haben Deutschland geschützt«, sagte Walter und spielte seinen Trumpf aus: »Und jetzt haben wir unsere Ziele erreicht.«
Sein Vater war überrascht. »Was meinst du damit?«
»Die Bedrohung besteht nicht mehr. Die russische Armee ist vernichtet, und das Regime des Zaren steht kurz vor dem Zusammenbruch. Wir haben Belgien erobert, sind in Frankreich eingefallen und haben gegen die Franzosen und ihre britischen Verbündeten ein Patt erkämpft. Wir haben geschafft, was wir uns vorgenommen haben. Wir haben Deutschland beschützt.«
»Ein Triumph.«
»Was wollen wir dann noch?«
»Den totalen Sieg!«
Walter beugte sich im Stuhl vor und schaute seinem Vater in die Augen. »Warum?«
»Unsere Feinde müssen für ihre Taten büßen! Sie müssen Reparationen zahlen, möglicherweise Grenzkorrekturen hinnehmen und Zugeständnisse in den Kolonien machen.«
»Aber das waren nicht unsere ursprünglichen Kriegsziele.«
Otto blieb unbeeindruckt. »Nein, aber jetzt haben wir so viel Kraft und Geld aufgewendet und die Leben so vieler guter, junger deutscher Männer geopfert, dass wir etwas dafür verlangen müssen .«
Das war ein schwaches Argument, aber Walter wusste, dass jeder Versuch, seinen Vater von dessen Meinung abzubringen, zum Scheitern verurteilt war. Außerdem hatte er bereits erklärt, Deutschland habe seine Kriegsziele erreicht. Jetzt versuchte er es auf einem anderen Weg. »Hältst du einen totalen Sieg wirklich für möglich?«
»Ja!«
»Im Februar sind wir mit allen unseren Kräften gegen die Festung von Verdun angerannt, konnten sie aber nicht einnehmen. Die Russen haben uns im Osten angegriffen, und die Briten haben alles, was sie haben, in die Offensive an der Somme geworfen. Diese gewaltigen Anstrengungen beider Seiten haben nichts an der Pattsituation geändert.«
Widerwillig räumte Otto ein: »Bis jetzt nicht.«
»Das hat auch die Oberste Heeresleitung eingesehen. Seit August, als man Falkenhayn entlassen hat und Ludendorff zum Stabschef ernannt wurde, haben wir unsere Taktik von Angriff zu Verteidigung in der Tiefe geändert. Wie sollen wir mit einer solchen Taktik den totalen Sieg erringen?«
»Durch den uneingeschränkten U -Boot-Krieg!«, erwiderte Otto. »Die Alliierten werden durch Lieferungen aus Amerika unterstützt, während unsere Häfen von der Royal Navy blockiert werden. Wir müssen ihre Lebensader durchtrennen, dann werden sie nachgeben.«
Walter wollte sich nicht auf weitere Diskussionen einlassen, doch da er nun damit begonnen hatte, beschloss er weiterzumachen. »Das würde Amerika mit Sicherheit in den Krieg hineinziehen«, sagte er.
»Weißt du, wie stark die Armee der Vereinigten Staaten ist?«
»Es sind nur etwa hunderttausend Mann, aber …«
»Korrekt. Sie können noch nicht einmal Mexiko befrieden! Amerika stellt keine Bedrohung für uns dar.«
Wie viele Männer seiner Generation war Otto von Ulrich nie in Amerika gewesen. Diese Männer wussten einfach nicht, wovon sie sprachen. »Die Vereinigten Staaten sind ein großes Land und sehr reich«, sagte Walter, der innerlich vor hilfloser Wut kochte; doch er sprach weiter in gelassenem Tonfall, um den Anschein einer freundlichen Diskussion zu wahren. »Sie können ihre Armee problemlos ausbauen.«
»Aber nicht so schnell. Es wird sie mindestens ein Jahr kosten. Bis dahin haben Briten und Franzosen längst kapituliert.«
Walter nickte. »Wir hatten diese Diskussion früher schon, Vater«, sagte er in versöhnlichem Tonfall, »wie jeder, der sich mit Strategie beschäftigt. Beide Sichtweisen haben etwas für sich.«
Das konnte Otto schlecht leugnen; also grunzte er nur missbilligend.
Walter fuhr fort: »Wie auch immer … Es liegt nicht an mir zu entscheiden, wie Deutschland auf dieses informelle Angebot aus Amerika reagiert.«
Otto verstand, worauf sein Sohn hinauswollte. »Und auch nicht an mir.«
»Präsident Wilson hat erklärt, wenn Deutschland den Alliierten formell
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