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Sturz der Titanen

Titel: Sturz der Titanen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ken Follett
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über die Deputierten schweifen und entdeckte Lenin in der ersten Reihe. Er ging zu dem Mann neben ihm und sagte: »Ich muss mit Iljitsch reden. Überlass mir deinen Stuhl.« Der Mann schaute ihn verärgert an, erhob sich aber.
    Grigori flüsterte Lenin ins Ohr: »Der Winterpalast ist in unserer Hand.« Dann nannte er die Namen der verhafteten Minister.
    »Zu spät«, erwiderte Lenin düster.
    Genau das hatte Grigori befürchtet. »Was geht hier vor?«
    Lenin legte die Stirn in Falten. »Martow hat einen Antrag eingebracht.« Julius Martow war Lenins alter Feind. Er hatte schon immer eine Sozialdemokratische Arbeiterpartei Russlands nach dem Vorbild der britischen Labour-Partei angestrebt, die mit demokratischen Mitteln für die Rechte der Arbeiterklasse kämpfte. Nach einem Streit mit Lenin im Jahre 1903 hatte sich die SDAPR in Lenins Bolschewiken und Martows Menschewiken gespalten. »Er fordert ein Ende der Straßenkämpfe und Verhandlungen zur Bildung einer demokratischen Regierung.«
    »Verhandlungen?«, erwiderte Grigori ungläubig. »Wir haben gerade erst die Macht übernommen!«
    »Wir haben den Antrag unterstützt«, sagte Lenin in sachlichem Tonfall.
    Grigori konnte es nicht glauben. »Warum?«
    »Hätten wir uns widersetzt, hätten wir verloren. Wir stellen dreihundert von insgesamt sechshundertsiebzig Delegierten. Wir sind bei Weitem die größte Partei, aber wir haben nicht die absolute Mehrheit.«
    Grigori fluchte in sich hinein. Der Coup war zu spät gekommen. Es würde wieder eine von Kompromissen bestimmte Koalition geben, und die Menschen würden weiterhin verhungern oder an der Front sterben.
    »Aber sie greifen uns trotzdem an«, fügte Lenin hinzu.
    Der Mann, der gerade redete, war Grigori unbekannt; trotzdem hörte er ihm zu. »Diese Kongress ist einberufen worden, um über eine neue Regierung zu diskutieren, aber was erleben wir hier?«, rief der Mann wütend. »Eine kleine Gruppe hat die Macht bereits auf unverantwortliche Art an sich gerissen, anstatt die Entscheidungen dieses Kongresses abzuwarten! Wir müssen die Revolution vor diesem Wahnsinn retten!«
    Ein Proteststurm der Bolschewiken folgte diesen Worten. Grigori hörte Lenin rufen: »Schwein! Bastard! Verräter!«
    Kamenew rief den Kongress zur Ordnung.
    Doch auch der nächste Redner war den Bolschewiken und ihrem Staatsstreich extrem feindlich gesinnt, und so ging es weiter. Lew Chintschuk, ein Menschewik, rief zu Verhandlungen mit der Provisorischen Regierung auf, und die darauf folgende Entrüstung der Delegierten fiel so heftig aus, dass Chintschuk einige Minuten nicht weiterreden konnte. Schließlich brüllte er über den Lärm hinweg: »Wir verlassen diesen Kongress!« Dann stapfte er aus dem Saal.
    Grigori wusste, welche Taktik sie damit fuhren. Die Menschewiken würden sagen, nach ihrem Rückzug habe der Kongress keine Autorität mehr. »Deserteure!«, brüllte jemand, und andere fielen in den Ruf ein.
    Grigori war angewidert. Sie hatten so lange auf diesen Kongress gewartet. Die Delegierten repräsentierten den Willen des russischen Volkes. Doch nun fiel er auseinander.
    Grigori schaute zu Lenin. Zu seinem Erstaunen funkelten Lenins Augen vor Freude. »Großartig«, sagte er. »Wir sind gerettet! Ich hätte nie damit gerechnet, dass sie so einen Fehler begehen würden.«
    Grigori hatte keine Ahnung, wovon der Mann redete. Hatte er den Verstand verloren?
    Der nächste Redner war Michail Gendelman, ein führender Sozialrevolutionär. Er sagte: »In Anbetracht der verbrecherischen Machtergreifung durch die Bolschewiken sehen wir uns nicht mehr in der Lage, mit ihnen zusammenzuarbeiten. Deshalb verlässt auch die Fraktion der Sozialrevolutionäre diesen Kongress!« Er ging hinaus, und seine Genossen folgten ihm. Die verbliebenen Delegierten pöbelten sie an und buhten.
    Grigori war wie erstarrt. Gerade noch hatte er einen gewaltigen Triumph gefeiert, und nun ging alles in die Brüche. Wie war das möglich?
    Doch Lenin schaute sogar noch zufriedener drein.
    Mehrere Soldatendeputierte sprachen sich zu Grigoris Freude für den bolschewistischen Putsch aus, was aber nichts daran änderte, dass er keine Ahnung hatte, worauf Lenins gute Laune zurückzuführen war. Lenin kritzelte etwas auf einen Notizblock. Während Rede auf Rede folgte, korrigierte er das Geschriebene und formulierte es neu. Schließlich reichte er Grigori zwei Blatt Papier. »Das muss dem Kongress zur sofortigen Annahme vorgelegt werden«, sagte er.
    Es war eine lange

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