Sturz der Titanen
Brücken, durchsetzt von Obsthainen und kleinen Wäldchen. Gut zwei Kilometer westlich vom Dorf befand sich das Netzwerk der deutschen Gräben; dahinter lag das Schlachtfeld. Die ländliche Gegend war vom Krieg schrecklich gezeichnet. Krater hatten aus den Feldern eine Mondlandschaft gemacht; Dörfer waren nur noch Trümmerhaufen, und von den Obsthainen waren bloß verkohlte Stümpfe übrig geblieben. Durch den Feldstecher konnte Walter auch die verwesenden Leichen von Männern und Pferden erkennen, sowie die ausgebrannten stählernen Hüllen gesprengter Panzer. Auf der anderen Seite dieser Wüstenei lagen die Briten.
Ein lautes Grollen erklang und veranlasste Walter, nach Osten zu blicken. Von dort näherte sich ein Fahrzeug, von dem er schon oft gehört, das er aber noch nie gesehen hatte. Es war ein Geschütz auf einer Selbstfahrlafette, angetrieben von einem hundert PS starken Motor. Ihm folgte ein schwerer Lastwagen, der die zum Geschütz gehörende Munition transportierte. Dann rollten ein zweites und drittes Geschütz heran. Als die schweren Fahrzeuge an den Männern vorbeirumpelten, hoben diese ihre Mützen und jubelten wie bei einer Siegesparade.
Walters Laune hob sich. Diese Geschütze konnten die Entscheidung bringen: Sie konnten rasch verlegt werden, wenn der Durchbruch erst geschafft war, und die Infanterie unterstützen.
Walter hatte auch von einem monströsen Riesengeschütz gehört, über das Deutschland verfügte und das Paris angeblich aus mehr als siebzig Kilometer Entfernung bombardieren konnte. Aber das erschien ihm fast unmöglich.
Den Geschützen folgte ein Mercedes Doppel-Phaeton, der Walter vertraut vorkam. Der Wagen bog von der Straße ab und parkte auf dem Kirchenvorplatz. Dann stieg Walters Vater aus.
Was machte der denn hier?
Walter duckte sich durch die niedrige Tür des Turmes und eilte die Wendeltreppe hinunter. Das Kirchenschiff war zu einem Schlafsaal umfunktioniert worden. Walter suchte sich einen Weg zwischen Decken, Matratzen und umgedrehten Kisten hindurch, die die Männer als Tische und Stühle benutzten.
Der Friedhof draußen war voller Grabenbrücken, hölzernen Plattformen, die es Männern mit schwerem Gerät ermöglichten, im Kielwasser der Sturmtruppen eroberte britische Gräben zu überqueren.
Der Strom der Männer und Fahrzeuge hatte sich mittlerweile ein wenig verlangsamt. Irgendetwas lag in der Luft.
Otto von Ulrich trug Uniform und salutierte wie auf dem Exerzierplatz. Walter sah ihm an, dass er schrecklich aufgeregt war. »Ein ganz besonderer Gast ist hierher unterwegs!«, verkündete Otto.
Das also war der Grund für den Besuch seines Vaters. »Wer?«, fragte Walter.
»Du wirst schon sehen.«
Walter vermutete, dass es sich um General Ludendorff handelte, der inzwischen de facto der deutsche Oberbefehlshaber war. »Was will er hier?«
»Er will sich an die Soldaten wenden, was sonst. Lass die Männer vor der Kirche antreten.«
»Wann?«
»Jetzt! Er ist direkt hinter mir.«
»In Ordnung.« Walter schaute sich auf dem Platz um. »Feldwebel Schwab! Kommen Sie mal her. Sie und Gefreiter Grünwald … und ihr da, ihr auch.« Walter schickte Melder in die Kirche, in die Kantine, die in einer großen Scheune eingerichtet war, und in das Zeltdorf auf dem Hügel im Norden. »In einer Viertelstunde will ich jeden Mann vor der Kirche sehen, in tadellosem Aufzug, ist das klar?« Die Männer rannten davon.
Walter eilte durchs Dorf, informierte die Offiziere und schaute dabei immer wieder die Straße nach Osten hinauf. Schließlich fand er seinen kommandierenden Offizier, Generalmajor Schwarzkopf, in einer nach Käse riechenden Molkerei am Dorfrand, wo er ein verspätetes Frühstück zu sich nahm.
Binnen einer Viertelstunde hatten sich insgesamt zweitausend Männer versammelt, darunter Walters Bataillon. Zehn Minuten später waren sie in Reih und Glied angetreten. Die Uniformen waren zugeknöpft, die Stiefel geputzt, die Feldmützen gerade gerückt. Anschließend improvisierte Walter aus Munitionskisten eine Treppe, die zur Ladefläche eines Lkws führte. Otto von Ulrich legte ein Stück roten Teppich aus seinem Mercedes vor die Treppe.
Walter holte den Gefreiten Grünwald aus der Reihe. Der Gefreite war ein hünenhafter Mann mit großen Händen und Füßen. Walter schickte ihn mit Fernglas und Trillerpfeife auf das Kirchendach.
Dann warteten sie.
Eine halbe Stunde verging, dann eine Stunde. Die Männer wurden unruhig, scharrten mit den Füßen und unterhielten
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