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Sturz der Titanen

Titel: Sturz der Titanen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ken Follett
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Grigori sah einen Treffer im dritten Stock und fragte sich, ob jemand in dem Raum dort gewesen war. Zu seinem Erstaunen fuhren die Straßenbahnen weiter über die nahen Brücken, als wäre nichts geschehen.
    Natürlich ging es hier nicht zu wie auf einem Schlachtfeld. An der Front feuerten stets Hunderte von Geschützen, manchmal Tausende. Hier waren es nur vier. Entsprechend lang waren die Intervalle zwischen den einzelnen Schüssen, und es war erschreckend, wie viele Granaten harmlos in den Fluss einschlugen.
    Grigori befahl, das Feuer einzustellen, und schickte mehrere Trupps zur Aufklärung in den Palast. Bei ihrer Rückkehr berichteten sie, dass die wenigen verbliebenen Wachen keinen Widerstand leisteten.
    Kurz nach Mitternacht führte Grigori ein größeres Kontingent in den Palast. Wie der Plan es vorsah, verteilten die Männer sich im Gebäude, liefen die prachtvollen dunklen Gänge entlang, schalteten jeden Gegner aus und suchten nach Ministern und Regierungsmitgliedern. Der Palast wirkte mittlerweile wie eine heruntergekommene Kaserne. Die Matratzen der Soldaten lagen auf den Parkettböden vergoldeter Staatsgemächer, und überall sah man Zigarettenkippen, Brotkrumen und leere Flaschen mit französischen Etiketten, die die Wachen sich vermutlich aus den Kellern des Zaren besorgt hatten. Grigori hörte vereinzelte Schüsse, doch viel gekämpft wurde offenbar nicht.
    Im Erdgeschoss fand sich kein Minister. Grigori kam der Gedanke, dass die Regierung sich vielleicht davongemacht hatte, und für einen Moment befiel ihn Panik. Er wollte Trotzki und Lenin nicht berichten müssen, dass ihm Kerenskis Clique durch die Finger geschlüpft war.
    Begleitet von Isaak und zwei weiteren Männern rannte Grigori die breite Treppe in den nächsten Stock hinauf. Gemeinsam stießen sie die große Doppeltür eines Besprechungszimmers auf. Und dort endlich fanden sie, was von der Provisorischen Regierung übrig war: Ein kleines Häuflein verängstigter Männer in Anzügen und Krawatten saß an einem Tisch und in Sesseln im Raum verteilt. Sie alle starrten die Bolschewiken mit großen Augen an.
    Schließlich nahm einer von ihnen seinen Mut zusammen und sagte: »Wir sind die Provisorische Regierung. Was wollen Sie?«
    Grigori erkannte Alexander Konowalow, einen reichen Textilfabrikanten und Kerenskis Stellvertreter.
    »Sie alle sind verhaftet«, sagte er. Es war ein wundervoller Augenblick, den Grigori in vollen Zügen genoss. Er drehte sich zu Isaak um. »Schreib ihre Namen auf.« Grigori kannte sie alle und zählte sie der Reihe nach auf: »Konowalow, Nikitin, Tereschenko …« Als die Liste vollständig war, befahl er: »Lass sie in die Peter-und-Paul-Festung schaffen, und sperr sie dort ein. Ich gehe ins Smolny und überbringe Lenin und Trotzki die gute Nachricht.«
    Grigori verließ das Gebäude. Als er auf den Schlossplatz gelangte, blieb er kurz stehen und dachte an seine Mutter. Genau hier war sie vor zwölf Jahren gestorben, erschossen von der Garde des Zaren. Grigori drehte sich um und schaute auf den riesigen Palast mit seinen weißen Säulen und den Hunderten von Fenstern, auf denen sich das Mondlicht spiegelte. Plötzlich überkam ihn heiße Wut, und er schüttelte die Faust in Richtung des Palasts. »Jetzt habt ihr bekommen, was ihr verdient, ihr Teufel«, sagte er laut. »Das ist dafür, dass ihr meine Mutter ermordet habt!«
    Grigori wartete, bis er sich wieder beruhigt hatte. Dann sprang er in seinen staubgrauen Panzerwagen, der neben einer eingerissenen Barrikade wartete. »Bring mich zum Smolny«, wies er den Fahrer an.
    Während der kurzen Fahrt genoss Grigori den Triumph. Jetzt haben wir wirklich gewonnen, dachte er. Wir sind die Sieger. Das Volk hat seine Unterdrücker gestürzt.
    Nachdem er vor dem Smolny-Institut aus dem Wagen gestiegen war, eilte er die Stufen hinauf und in die große Aula, die aus allen Nähten platzte. Der Sowjetkongress hatte begonnen. Trotzki hatte die Eröffnung nicht mehr hinauszögern können. Tabakrauch waberte um die Kronleuchter. Auf der Bühne saßen die Mitglieder des Präsidiums. Grigori kannte die meisten von ihnen. Die Bolschewiken hatten vierzehn der fünfundzwanzig Sitze. Das bedeutete, dass sie die meisten Abgeordneten stellten. Doch zu Grigoris Entsetzen hatte Kamenew den Vorsitz, ein Gemäßigter, der gegen einen bewaffneten Aufstand gestimmt hatte. Wie Lenin geahnt hatte, arbeitete der Kongress auf einen weiteren schwächlichen Kompromiss hin.
    Grigori ließ den Blick

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