Sturz der Titanen
Schrecken klar. Aber es gab keine Minen, und die Matrosen in ihren schwarzen Jacken gingen mit ihren Gewehren an Land. Grigori bereitete sich darauf vor, sie um den Winterpalast herum in Stellung zu bringen. Doch zu seiner Verzweiflung traten bald neue Schwierigkeiten auf: Isaak fand zwar ein Geschütz und ließ es unter erheblichen Mühen in Stellung bringen, musste dann aber feststellen, dass er keine geeignete Munition für das Geschütz hatte. Gleichzeitig errichteten die Regierungstruppen im Palast Barrikaden.
Wütend fuhr Grigori zum Smolny-Institut zurück, wo gerade eine Krisensitzung des Petrograder Sowjets eröffnet werden sollte. In der riesigen, in jungfräulichem Weiß gestrichenen Aula der ehemaligen Mädchenschule drängten sich Hunderte von Deputierten. Grigori ging auf die Bühne und setzte sich neben Trotzki. »Der Angriff hat sich durch eine Reihe von Problemen hinausgezögert, Genosse«, sagte er.
Trotzki nahm die schlechten Nachrichten mit bemerkenswerter Ruhe auf. Lenin hätte einen Tobsuchtsanfall bekommen. »Wann kannst du den Palast stürmen?«, wollte Trotzki von Grigori wissen.
»Um sechs Uhr.«
Trotzki nickte und wandte sich wieder der Versammlung zu. »Im Namen des Militärrevolutionären Komitees erkläre ich, dass die Provisorische Regierung nicht mehr existiert!«, rief er.
Ein Jubelsturm setzte ein. Grigori hoffte nur, dass er diese Lüge wahr machen konnte.
Als der Jubel verebbte, zählte Trotzki die Leistungen der Roten Garde auf: die Einnahme der Bahnhöfe und weiterer Schlüsselstellen in nur einer Nacht sowie die Auflösung des Vorparlaments. Außerdem verkündete er, dass mehrere Minister bereits verhaftet worden seien. »Der Winterpalast wurde noch nicht eingenommen, doch sein Schicksal wird sich bald entscheiden!«, gab Trotzki bekannt. Wieder brandete Jubel auf.
Ein Abweichler rief: »Du greifst dem Willen des Kongresses vor, Genosse!«
Trotzkis Antwort kam so schnell, dass er mit dieser Kritik gerechnet zu haben schien: »Es ist der Aufstand der Arbeiter und Soldaten, der dem Kongress vorgreift«, erwiderte er.
Plötzlich durchlief ein Raunen die Reihen der Deputierten. Viele von ihnen erhoben sich. Grigori blickte zur Tür und sah den Grund dafür: Lenin kam herein. Die Deputierten brachen in Jubel aus, als Lenin auf die Bühne stieg. Dann standen er und Trotzki lächelnd Seite an Seite, verbeugten sich und nahmen den Beifall für einen Staatsstreich entgegen, der noch gar nicht stattgefunden hatte.
Die Matrosen aus Helsingfors ließen immer noch auf sich warten, und auch Isaaks Geschütz in der Festung war noch nicht feuerbereit. Bei Einbruch der Nacht setzte kalter Nieselregen ein. Grigori hatte den Sitzungssaal verlassen und stand am Rande des Schlossplatzes, vor sich den Winterpalast und hinter sich das Generalstabsgebäude, als er einen Trupp Kadetten aus dem Palast kommen sah. Ihre Abzeichen verrieten, dass sie zur Michailowski-Artillerieschule gehörten. Sie verließen den Palast mit vier Feldgeschützen. Grigori ließ sie ziehen.
Um sieben Uhr befahl er einer Einheit aus Soldaten und Matrosen, die Kontrolle über das Generalstabsgebäude zu übernehmen, was ihnen ohne Gegenwehr gelang.
Um acht Uhr beschlossen zweihundert Kosaken, die zum Wachdienst am Palast eingeteilt waren, in ihre Kaserne zurückzukehren. Grigori ließ sie durch die Absperrungen. Diese auf den ersten Blick ärgerlichen Verzögerungen waren letztendlich ein Vorteil: Die Zahl der Verteidiger nahm immer weiter ab.
Kurz vor zehn meldete Isaak, dass das Geschütz in der Peter-und-Paul-Festung endlich einsatzbereit sei. Grigori befahl, eine Übungsgranate ohne Sprengkopf abzufeuern. Wie erwartet flohen daraufhin weitere Soldaten aus dem Palast.
Konnte es wirklich so einfach sein?
Draußen auf dem Wasser ertönte der Alarm an Bord der Amur . Grigori blickte den Fluss hinunter und sah die Lichter näher kommender Schiffe. Sein Herz setzte einen Schlag aus. War es Kerenski doch noch gelungen, im allerletzten Moment regierungstreue Truppen in die Hauptstadt zu bringen? Dann aber ertönte Jubel auf dem Deck der Amur , und Grigori wusste, dass es sich bei den Neuankömmlingen um die Männer aus Helsingfors handeln musste.
Als die Schiffe sicher vor Anker lagen, gab Grigori Befehl, mit dem Angriff zu beginnen – endlich.
Kanonendonner ließ die Erde erzittern. Mehrere Geschosse explodierten in der Luft und tauchten die Schiffe auf dem Fluss und den belagerten Palast in gleißendes Licht.
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