Sturz in die Zeit: Roman (German Edition)
sie hören?«
»Ja, bitte.«
»Du kennst doch die großen Türen vorn am Jugendhaus, oder? Mit den Stufen davor?«, fragte ich.
Sie nickte.
»Diese Stufen lief ich gerade hoch, als da dieses Mädchen kam und mich anrempelte. Sie hat anscheinend im Gehen in einem Buch gelesen …«
»Welches Buch war es?«
Ich strich ihr die Haare aus dem Gesicht und lächelte. »Ich wusste, dass du das fragen würdest. Irgendwas von John Grisham. Sie läuft jedenfalls voll in mich rein, und ihr riesiger roter Smoothie platscht auf meine Schuhe. Wir rutschen also in gefrorenem Erdbeerpüree herum, und das Erste, was mir an ihr auffällt, sind ihre blassblauen Augen.«
Courtney lachte leise. »Wie romantisch …, aber ich glaub dir nicht, dass du ihr zuerst in die Augen gesehen hast.«
»Ungelogen. Hab ich wirklich gemacht. Und dann hab ich nach ihrem Buch gegriffen, um es aus der Smoothieflut zu retten, und sah, dass sie ihren Namen auf die Innenseite des Buchdeckels geschrieben hatte, Holly Flynn , mit einem großen Schnörkel vor dem H . Das fand ich natürlich sehr süß, aber ich konnte es ihr schlecht sagen. Ich meine, wer schreibt schon seinen Namen vorn in ein Buch?«
»Ich schon«, flüsterte Courtney. »Und was passierte dann?«
»Ich gab ihr das Buch, und sie lächelte mich an. Und plötzlich konnte ich an nichts anderes mehr denken, als dass ich sie unbedingt küssen wollte. Einfach nur um zu sehen, wie es sich anfühlte. Irgendwie wusste ich, dass es mit Holly anders sein würde. Alles würde anders sein.«
»Mein Bruder ist verliebt. Ich hätte nie gedacht, dass ich das mal hören würde«, murmelte sie lächelnd.
Ich drückte meine Lippen auf ihre Stirn. »Du bist so kalt.«
»Du musst mir was versprechen, ja, Jackson?«
»Alles, was du willst.«
»Heirate das Mädchen mit dem Smoothie und setzt zusammen viele, viele Kinder in die Welt. Mindestens sechs. Und eins davon kannst du dann Courtney nennen und eins Lily. Den Namen hab ich schon immer geliebt.«
»Ich weiß. Du hast ungefähr fünf Puppen Lily genannt. Aber ich bin erst neunzehn, ein bisschen zu jung zum Heiraten …«
Ihre Augen flogen auf, und ich konnte sehen, wie lauter Theorien durch ihren Kopf wirbelten, dann bekam sie Panik. Sie schnappte nach Luft und sagte: »Du bist gar nicht Jackson, oder?«
Ich zog sie näher und legte beide Arme um sie. »Shh, alles ist gut. Ich bin es wirklich, ich bin nur älter.«
»Aber wir haben uns noch nie hier getroffen. Normalerweise gehe ich dich besuchen.«
»Ja, ich weiß«, sagte ich, auch wenn ihre Worte für mich keinen Sinn ergaben. Ich hasste es, dass sie so ruhig war nach dem, was ich da aus Versehen gesagt hatte. Kein Nach-mir-Schlagen und kein Aufschrei wie mitten im Coffeeshop. Das bedeutete, dass sie ihr sehr viel Morphium gaben und ihr Leben nur noch an einem seidenen Faden hing.
Sie gähnte und entspannte sich wieder. »Ich bin so müde.«
Ich schaute auf die Uhr an der Wand. Es war erst Viertel vor neun. Als ich sah, dass sie wieder die Augen zumachte, und wusste, dass sie bald wegdriften würde, bekam ich Panik. Auch wenn ich wusste, was kam. Ich meine, ich hatte meine Schwester bereits im Sarg liegen sehen. Aber ich wollte es trotzdem aufhalten. Oder zumindest aufschieben. Ihr ein bisschen mehr Zeit geben.
»Courtney! Bleib wach, bitte. Bitte!« Ich schüttelte sie leicht und drückte meine Stirn gegen ihre Haare. »Nur noch ein bisschen.«
Sie berührte mein Gesicht mit der Hand und wischte mir die Tränen von den Wangen. »Du hast Haare im Gesicht. Das kratzt.«
Ich lachte. »Ich liebe dich. Das weißt du doch, oder?«
»Ich liebe dich auch.« Ihre Hand rutschte auf meinen Hals, als hätte sie nicht mehr die Kraft, sie hochzuhalten. »Du hast es mir noch gar nicht versprochen. Heirate das Smoothie-Mädchen und bekommt sechs Kinder und vielleicht einen Hund.«
»Ich verspreche es«, flüsterte ich ihr direkt ins Ohr, damit ich sicher sein konnte, dass sie es hörte. Auf ihrem Gesicht erschien ein breites Grinsen. »Welches sollte denn unser Hochzeitslied sein?«
»Hmm …«
»Ich weiß, was du aussuchen würdest«, neckte ich sie und stimmte ihren Lieblingssong an: »›I see the bad moon arising.‹«
»Ja«, sagte sie. »Eigentlich kein Hochzeitslied, aber trotzdem …«
Ich spürte bereits, wie flach sie atmete. Ich wollte tapfer sein, weiterreden und mich für Courtney zusammenreißen, aber ich schaffte es nicht. Sie war unterwegs zu einem Ort, der weit weg von mir
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