STYX - Fluss der Toten (German Edition)
sein Fleisch. Ja, jetzt hat wohl sein letztes Stündlein geschlagen.
9
Schon triefen die drei Mäuler der Bestie von Lucianos Blut. Da lassen sie unverhofft von ihm ab, stimmen neuerlich ein wütendes Geheul an, wenden sich um, blicken nach oben. Luciano versucht ihrem Blick zu folgen, erkennt, dass der Engel, schräg über ihm schwebend und heftig mit den Flügeln schlagend, neuerlich den Schwanz des Cerberus in seinen Händen hält und angestrengt daran zieht, versucht aufzuspringen, schafft es nicht. Er fühlt sich gänzlich kraftlos, von den Schmerzen und wohl auch vom Schock gelähmt. Kurz entschlossen, lässt er sich den steilen Uferhang hinunterrollen und rettet sich, ohne eine Sekunde zu zögern, ins Wasser. Wird er überhaupt genügend Kraft besitzen, um ans andere Ufer schwimmen zu können? Er beißt die Zähne zusammen, stößt sich ab. Und siehe da, wider Erwarten ist die nötige Kraft auf einmal wieder da, und er schafft die Überquerung, ohne zu versinken und ohne auch nur einen Tropfen Wassers zu verschlucken, ja sogar ohne daran zu denken, dass ihm die Bestie ja noch immer nachschwimmen könnte, um ihren Blutrausch an seinem Fleisch zu befriedigen.
Erst in dem Moment, wo er glücklich ans andere Ufer klettert, hört er über dem gewaltigen Rauschen, das seine Ohren betäubte, solange er mit der reißenden Strömung zu kämpfen hatte, wieder das schaurige dreistimmige Geheul. Sofort sitzt ihm der Dämon der Todesangst erneut im Nacken, und er wendet sich hektisch um, um der Gefahr ins Auge zu blicken. Doch gottlob, die Bestie springt nur aufgeregt am anderen Ufer auf und ab und heult ihm hinterher. Entweder verabscheut sie die stinkende Brühe des Verhassten Flusses noch heftiger, oder sie ist einfach wasserscheu. Oder vielleicht darf sie auch ihr Ufer nicht verlassen. Egal. Luciano ist gerettet. Und wie sehen nun seine Wunden aus? Bluten sie noch immer so stark? Die Schmerzen sind, Gott sei Dank, vergangen. Und o Wunder, er erkennt die Stellen, wo ihn Cerberus gebissen hat, nur an den Rissen im Gewand. Aber seine Haut ist völlig unversehrt, und wenn er sie noch so oft betrachtet. Na, es geschehen noch Zeichen und Wunder. Oder besitzt das Wasser des Verhassten Flusses etwa heilende Kräfte?
Wo ist eigentlich Uriel, damit er ihn fragen kann? Ah, der ist längst gelandet, steht in einiger Entfernung neben Donna und setzt sich eben in Bewegung, ohne einen Laut von sich zu geben, und Donna ihm nach.
Luciano erinnert sich wieder an das Schweigegebot, verzichtet auf seine Frage und beeilt sich, ihnen nachzukommen, freut sich einfach, dass die Wunden geheilt, die Schmerzen verschwunden sind, zumal es von nun an bergauf geht. Das Gelände beginnt ja sofort anzusteigen, und vor ihnen sind trotz des trüben Dämmerlichts schon pittoreske Felsformationen zu erkennen – quasi die Fortsetzung der Felsen von Rax und Schneeberg nach unten?
Luciano überlegt sich gerade, wie man sich das konkret vorzustellen hat, da wird er wie zuvor auf das vielstimmige fledermausartige Wispern aufmerksam und erinnert sich, dass auf dieser Seite des Verhassten Flusses Seelen hausen, die das Wasser des Vergessens noch nicht getrunken haben und es ihm, Luciano, übelnehmen, dass er als Lebender hier herumspaziert. Was ist, wenn sie es ihm noch mehr übelnehmen, dass er mit seiner Donna zur Oberwelt, zum Licht, ins Leben zurückkehrt? Hat nicht Uriel erklärt, sie könnten ihnen theoretisch gefährlich werden? Wo sind sie überhaupt? Wo kommt dieses beunruhigende Wispern her? Schaudernd blickt Luciano um sich.
Beim Bergsteigen sollte man bekanntlich auf den Weg achten, zumal bei Dunkelheit. Luciano achtet auf die Umgebung, um sich gegen einen eventuellen Angriff der neidischen Seelen zu wappnen. Erschwerend kommt hinzu, dass seine Kleidung im Augenblick pitschnass ist, seine Schuhe voller Wasser sind. Diesmal hat er sich, um Uriel und Donna nachzukommen, nicht die Zeit genommen, sie auszuleeren. Schließlich geht es jetzt bergauf. Faktum ist: Er stolpert, stürzt, schlägt sich Knie und Hände auf, bleibt einige Augenblicke benommen liegen, versucht sich aufzurappeln, schafft es nicht. Verdammt, wieso schafft er es nicht? Und wieso kitzelt es ihn mit einem Mal am ganzen Leib, als wäre er in einen Schwarm von Fledermäusen geraten oder wären die Lippen einer ganzen Horde von Vampiren über ihm, ehe sie ihm die Zähne ins Fleisch schlagen und sein Blut aussaugen? Verzweifelt wendet er seinen Kopf zur Seite. Und da sieht er sie,
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