STYX - Fluss der Toten (German Edition)
Kuppel. Das Ganze erinnert ihn, abgesehen von der Größe, an ein frühchristliches Ciborium. Und tatsächlich, unter der Kuppel erhebt sich ein hoher Thron. Nur, ob auf diesem einer thront, ist nicht auszumachen. Aber mittlerweile weiß Luciano ja, warum. Erst als sie ohne weitere Katastrophen unmittelbar vor dem Ciborium angelangt sind, erkennt er auf dem Thron eine geisterhafte Gestalt mit langem Bart, der ihr bis zu den Füßen reicht. Ist das König Pluton?
Der Engel verbeugt sich schweigend und zwingt Luciano, der stocksteif neben ihm steht, mit keineswegs sanfter Gewalt, sich ebenfalls tief zu verbeugen. Über drei Stufen steigen sie auf eine weite, kreisrunde Plattform, die wie die Säulen aus schwarzem Marmor zu bestehen scheint, schreiten langsam auf den Thron zu, der auf einem hohen Podium in der Mitte der Plattform steht; und diesmal verbeugt sich Luciano in vorauseilendem Gehorsam noch vor dem Engel. Nach einigen Augenblicken beklemmender Stille ertönt vom Thron her eine Stimme, die Luciano schaudern macht. Sie klingt in der Tat wie die eines Geistes.
»Was fällt dir ein, o Uriel, einen Sterblichen hierherzubringen?«
Darauf der Engel: »O König Pluton!« (Er ist es also wirklich.) »Ich konnte nicht anders. Er hat mich einfach bezaubert.«
»Wahrlich, als Wächter des Hades ...«
»Oh, ich weiß. Und ich werde ihn auch gleich wieder hinausbefördern, sobald er sein Anliegen ...«
»Sein Anliegen? Höre ich recht? Ein Anliegen hat er?«
»So ist es, o König.«
»Und wie lautet es?«
»Du mögest eine unserer Seelen ins Leben zurück entlassen.«
»Wie? Und das unterstützt du noch?«
»Es handelt sich um seine Frau. Er liebt sie sehr. Sie aber hat ihn allzu jung verlassen.«
»Ja, und? Siehe, das passiert jeden Tag irgendwo auf der Erde.«
»Aber in diesem Fall ist, so scheint es, die Liebe besonders groß.«
»Ich aber sage dir, das ist noch lange kein Grund ...«
»Das mag schon sein. Aber er ist ein wunderbarer Sänger.«
»Ja, und?«
Bis hierher hat Luciano diesen sonderbaren Dialog atemlos als stummer Zuhörer verfolgt. Nun aber ruft er, seine Scheu überwindend: »Und sie war eine wunderbare Sängerin. Die ganze Welt trauert, weil sie verstummt ist. Bitte ...«
Hier versiegt Lucianos Redefluss. Es folgen mehrere Augenblicke betretenen Schweigens. Während ihn Pluton, sichtlich überrascht, mustert, sagt der Engel: »Ebenso würde die ganze Welt trauern, würde er verstummen. Und verstummen würde er gewiss, müsste er allein zurückkehren.«
»Er wird allein zurückkehren«, so Pluton in grimmigem Ton, »und zwar sofort. Wenn nicht, wird er ins nie erlöschende Feuer hinabgeworfen. Dort wird Heulen und Zähneknirschen sein.«
Nun weiß der Engel nicht, was er erwidern soll, und wirft Luciano einen ratlosen Blick zu. Dieser erschaudert vor Entsetzen und glaubt im nächsten Augenblick aufs Neue in Ohnmacht zu fallen. Doch dann erinnert er sich, wie er zuvor das Herz des Engels erweicht hat, und beginnt, kurz entschlossen, zu singen. Wieder schmettert er Florestans erste Arie, und als ihm ein Blick auf Pluton zeigt, dass diese nicht ohne Wirkung geblieben ist, singt er die erste Arie des Tamino »Dies Bildnis ist bezaubernd schön« aus Mozarts Zauberflöte und noch weitere Tenorarien der Opernliteratur; und nach jeder von ihnen stellt er fest, dass Plutons Miene wieder um eine Spur weniger grimmig geworden ist.
»Wahrlich, es stimmt«, beginnt dieser schließlich, zwar nicht zu Tränen gerührt, aber jedenfalls in plötzlich gar nicht mehr so grimmigem Ton. »Sein Gesang ist göttlich. Wie soll da ein Herz hart bleiben können? Also gut. Höre, o Sterblicher. Ins nie erlöschende Feuer werde ich dich nicht werfen lassen. Aber dein Begehren kann ich dir trotz allem nicht erfüllen. Denn es hieße das Weltgesetz verletzen.«
»Aber unsere Liebe ...«
»Ach was, die Liebe«, wirft Pluton ein, ohne Luciano ausreden zu lassen. »Nur weil die eurige besonders groß ist ...«
Nun fällt Luciano ihm ins Wort. Sein bisheriger Erfolg hat ihn kühn gemacht. »Die Liebe erträgt alles. Sie duldet alles. Sie überwindet alles. Sie kann Berge versetzen. Wenn sie groß genug ist.«
»Berge versetzen? Das verstehe ich nicht.«
»Das werden Sie auch nie verstehen.«
»Was soll das heißen, das werde ich nie verstehen? Hältst du mich für einen Schafskopf, oder was?«
»Aber nein. Nur, wie kann ein Bewohner des Hades verstehen, was Liebe ist?«
»Für so blöd brauchst du mich nicht
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