STYX - Fluss der Toten (German Edition)
oder gar zurückzukommen, entschwindet sie allmählich seinen Blicken.
Starr vor Entsetzen, unfähig, irgendeinen Laut von sich zu geben, wird Luciano vom Engel mit sanfter Gewalt zum Flammenschwert geführt, genauer, geschleppt. Zu schreien beginnt er erst in dem Moment, da ihn der Engel loslässt, das Schwert aufhebt und ihn hinter dieses, in Richtung Oberwelt, stößt. Besinnungslos vor Wut, schreit er ihm seine grenzenlose Verzweiflung ins Gesicht. Und wieder ist der einzige Erfolg, dass seine Stimme grausig widerhallt.
Dem Engel selbst stehen (wie Homer sagen würde) die Augen wie Horn oder Eisen unbewegt in den Lidern, und sobald Luciano verstummt, einfach, weil er keine Kraft mehr zum Schreien hat, erwidert Uriel mit einer Stimme aus Horn oder Eisen: »Wahrlich, du Armer, du dauerst mich. Trotzdem, kehre jetzt zurück in die Oberwelt und versuche dein eigenes Leben, so gut du kannst, zu Ende zu leben.«
Doch inzwischen haben sich (um einmal noch Homers Worte zu gebrauchen) ihm, dem Armen, der den Höllenengel Uriel so sehr dauert, die Knie und das liebe Herz gelöst. Ein Bild äußerster Verzweiflung, kauert er auf dem Boden und schluchzt zum Gotterbarmen. Doch dann rappelt er sich unter Aufbietung seiner letzten Kraftreserven auf, stößt mit dem Mut der Verzweiflung Uriel zur Seite, stürmt an ihm vorbei in die Tiefe, seiner Donna nach, stolpert, stürzt. Doch im Gegensatz zu ihr verletzt er sich abermals, und diesmal, aus den Schmerzen und dem reichlich strömenden Blut zu schließen, schwer. Und während er noch, den Kopf nach unten, benommen auf den Steinen liegt, wird plötzlich ein Gekreische laut, so grauenhaft, dass ihm das Blut in den Adern stockt und sogar die Wunden einen Augenblick zu bluten aufhören. Er blickt auf, schließt sofort geblendet die Augen, öffnet sie vorsichtig wieder, erkennt zunächst nur das Feuer einer Fackel, hierauf Schlangen, die sich um ein purpurrotes, zornig kreischendes Frauengesicht ringeln und muss ungeachtet seiner verzweifelten Lage sofort an den Chor der Furien in Glucks Oper »Orpheus und Eurydike« denken. Und schon zuckt er zusammen und schreit gepeinigt auf, denn sein Rücken wurde von einer mit rasender Wut geschwungenen Peitsche getroffen. Doch mit dem einen Schlag ist die Wut der Furie noch lange nicht gestillt.
Unentwegt prasseln die Schläge auf ihn nieder, und seine Schmerzensschreie wetteifern mit dem Gekreische der Furie. Erst eine barmherzige Ohnmacht verbirgt diesen Horror vor seinem Bewusstsein, erlöst ihn von seinen Schmerzen.
11
Luciano erwacht.
Der böse Spuk ist verschwunden. Die Schmerzen sind noch da. Noch immer liegt er, Kopf abwärts, auf dem Bauch. Nur, das Flammenschwert leuchtet jetzt nicht mehr hinter ihm, sondern vor seinen Augen. Da muss ihn also irgendjemand hierher getragen oder wohl eher an den Füßen geschleppt haben. Denn die Knie schmerzen jetzt ganz fürchterlich. Überhaupt schmerzt und blutet sein Körper an den unterschiedlichsten Stellen. Wie soll er unter solchen Umständen wieder auf die Beine kommen?
»Herr Uriel«, ruft er und wundert sich im Stillen über seine schwache Stimme. »Lieber Engel Uriel, bitte helfen Sie mir auf.«
Uriel zeigt keine Reaktion. Wie Horn oder Eisen stehen ihm die Augen unbewegt in den Lidern. Also versucht Luciano selbst aufzustehen, schafft es aber nur, sich aufzusetzen, und muss plötzlich daran denken, wie er an eben dieser Stelle durch seinen Gesang Uriels Herz erweicht hat. Vielleicht lässt es sich ein zweites Mal erweichen? Er bemüht sich (mit wenig Erfolg), seine Schmerzen, seine Schwäche, seine Benommenheit zu ignorieren, holt tief Atem und stimmt erneut die erste Arie des Florestan an.
Aber ach, alles, was seine Kehle hervorbringt, ist ein heiseres Krächzen. Verzagt bricht er ab. Reagiert der Engel? Nein, aus Horn oder Eisen bestehen seine Augen. Und Lucianos Augen werden abermals zu einer reichlich strömenden Quelle.
Irgendwann ist ihr gesamter Flüssigkeitsvorrat aufgebraucht. Die Schmerzen haben unterdessen ein wenig nachgelassen, ebenso die Benommenheit, nicht allerdings die Schwäche. Und all die schönen Hoffnungen Lucianos sind seiner geliebten Donna in den Hades hinab gefolgt. Soll er einfach hier sitzen bleiben, um an Hunger und an Durst zu sterben? Dann hätte der Todesengel keine Veranlassung mehr, ihn zurückzuhalten, hätte die Furie keinen Grund mehr, ihn zu foltern. Nein, das wäre ein gar zu schrecklicher Tod. Es gibt doch wirksamere und zugleich weit
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