STYX - Fluss der Toten (German Edition)
in die Unterwelt pilgerte und dann erfolglos, enttäuscht, des Lebens überdrüssig, in die Welt der Lebenden zurückkehrte. Von diesem Felsen aus werde ich ihr gewissermaßen in die Arme springen , sagt er sich. Nur, heute noch nicht. Aber morgen. Morgen ist auch noch ein Tag. Mein letzter in der Welt der Lebenden.
Lucianos letzte Nacht. Eine quälende innere Unruhe hält ihm lange Zeit den Schlaf fern. Spät erst nickt er ein, erwacht bald wieder durch einen geheimnisvollen Lichtschein, durch einen geheimnisvollen und doch irgendwie vertrauten Duft, versucht geblendet die Augen aufzuschlagen, erkennt, dass der Lichtschein nicht durchs Fenster hereinkommt, sondern dass sich seine Quelle im Inneren des Zimmers befindet. Sie hat die Form eines Menschen. Sie hat die Form einer schlanken, anmutigen jungen Frau. Sie hat die Form seiner Liebsten, erleuchtet von einem geheimnisvollen inneren Licht. In der Tat, wieder steht Donna an seinem Bett. Wieder ist sie wie eine Krankenschwester gekleidet. Wieder verströmt sie ihren lieblichen Duft. Wieder lächelt sie ihn süß an. Wie drängt es ihn, sie zu berühren, zu umarmen! Aber durch bittere Erfahrung gewitzigt, hält er seine Hände im Zaum.
»Liebster«, sagt sie lächelnd, aber mit ernster, eindringlicher Stimme. »Hör zu. Tu's nicht. Du sollst wissen: Ich habe dich nicht vergessen. Meine Liebe ist unsterblich. Sie ist stärker als der Tod. Ich werde geduldig auf dich warten. Danach werden wir eine ganze Ewigkeit zusammen sein. Drum: Tu's nicht. Versprichst du mir das?«
Lucianos Zunge ist gelähmt. Er kann nur nicken. Tränen schießen ihm in die Augen. Wieder lächelt ihm Donna zu. Dann verblasst ihre anmutige Gestalt.
Am nächsten Morgen fragt er sich: Habe ich geträumt? Oder war ich wach, und die Erscheinung war real?
Er weiß es nicht. Doch er weiß, was er versprochen hat.
Er hat es nicht vergessen.
Nach Hause
Annika Dick
Die Blätter an den Bäumen haben schon vor Wochen ihre grüne Farbe gegen das Rot und Gelb und Braun eingetauscht, das meine Mutter so liebt. Sie sagt, sie tue es für mich. Als Geschenk. Um mir zu zeigen, wie sehr sie mich liebt. Und doch erzwingt sie jedes Jahr diesen Weg von mir. Jedes Jahr bin ich aufs Neue gezwungen mein Zuhause zu verlassen und alles, was mir lieb und teuer ist, für diese quälend langen Monate hinter mir zu lassen.
Heute hat sie mich mitgenommen zu einem Fest, dass die Menschen zu Ehren der Ernte feiern. IHR zu Ehren.
Immer geht es um sie! Immer muss es nach ihrem Willen gehen! Manchmal frage ich mich, wer die Mutter und wer das Kind ist.
Sie ist aufgeregt. Springt umher wie ein kleines Mädchen, als wir uns den Menschen nähern. Sie danken für die reiche Ernte, die sie über den Winter bringen wird. Doch das Lächeln meiner Mutter verblasst rasch, und es dauert nicht lange, bis ich den Grund erkenne: Die Menschen haben Statuen errichtet, um die Götter zu ehren. Zwei Statuen - einen Mann und eine Frau. Sie rufen nicht nach meiner Mutter, danken nicht IHR für die reiche Ernte. Nein, sie beten unsere Namen; den meines Ehemannes und meinen eigenen. Die plötzliche Kälte neben mir zeigt nur zu deutlich, was meine Mutter davon hält. Sie wendet sich ab; lässt mich und die Menschen stehen.
Ihre Liebe ist launisch. Sie ist da, wenn es ihr nützt - wenn es sie gut aussehen lässt. Jetzt tut sie das nicht.
Ich darf gehen, werde für heute nicht länger gebraucht. Das heißt, ich werde für die nächsten Monate nicht mehr gebraucht. Denn heute ist der Tag an dem ich zu meinem Ehemann zurückkehre.
Ich drehe mich um und sehe meiner Mutter nach. Normalerweise würde sie mich jetzt rufen. Würde mich ihre Kore nennen – ihr Mädchen. Ich schüttele schweigend den Kopf und gehe an den feiernden Menschen vorbei. Ich laufe den Rest des Tages und pünktlich zum Sonnenuntergang erreiche ich das Ufer des Styx.
Charon legt gerade mit seinem Boot am Ufer an und lässt mehrere Verstorbene einsteigen. Sie achten auf nichts um sich herum. Ich betrachte sie kurz, bevor mein Blick wieder auf den Fluss fällt. Charon lässt das Boot in die Fluten gleiten und während ich zusehe, wie es das gegenüberliegende Ufer anstrebt, breitet sich ein Lächeln auf meinen Lippen aus.
So lange habe ich darauf gewartet, ihn wieder zu sehen.
Der Styx ist in jedem Jahr das Letzte, was ich von der Unterwelt sehe. Und kaum lasse ich ihn hinter mir, sehne ich mich auch schon zurück. Nach ihm und nach allem, was er für mich bedeutet.
Wenn
Weitere Kostenlose Bücher