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STYX - Fluss der Toten (German Edition)

STYX - Fluss der Toten (German Edition)

Titel: STYX - Fluss der Toten (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Unbekannt
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weil ich zu keinem wirklichen Prozess geladen war. Als eine Art Gast betrat ich das Gemäuer, geschützt durch einen konkreten, zeitlich begrenzten Auftrag – ein Drehtag! – und die für Schauspieler geltende Regel des »Als Ob«.
    Ich hatte nur so zu tun, als ob ich in diesem Haus ein- und ausginge. So konnte das Gebäude seine an sich einschüchternde Wirkung nicht zur vollen Entfaltung bringen. Ich war nur ein Tagesausflügler in einer Wirklichkeit, mit der ich ansonsten nichts zu tun hatte.
    Gott sei Dank! flüsterte eine innere Stimme mir zu.
    Doch jetzt, in dem Moment, in dem ich mich vor die Wahl gestellt sah, einen dieser Gänge zu betreten, um meinen Rückweg fortzusetzen, begann das Gebäude seine einschüchternde Wirkung, in all seiner zweifelhaften Pracht, zu entfalten.
    Es war die klassische Situation – ein Mensch, verloren im Labyrinth, ohne Hinweis, ohne helfenden Zuruf, ohne roten Faden! Ich fühlte mich wie der Held in einer klassischen Tragödie oder wie Hänsel im Wald. Nur dass ich leider vergessen hatte, Brotkrumen auszuwerfen, und dass auch keine Gretel an meiner Seite stand, die wenigstens meine Hand hätte halten können.
    Die wenigen Menschen, die an mir vorbeischlichen, waren nur Schattenwesen, geisterhafte Schemen, ebenso verlassen wie ich; Schimären einer lasterhaften Einbildung, schon vor der Geburt für schuldig befunden: Schuldig, im Namen des Gesetzes! Schuldig, auf dem falschen Kontinent gezeugt worden zu sein! Schuldig, im falschen Land das Licht der Welt erblickt zu haben! Schuldig, die falsche Stadt, das falsche Dorf, das falsche Viertel gewählt zu haben, für ein Leben in Armut, Not und Zerrissenheit! Schuldig, überhaupt am Leben teilnehmen zu wollen – egal wo, egal wie, egal wann und warum!
    Hatte ich etwas ausgelassen? Schuldig in eine Welt gestoßen zu sein, die solche Unterschiede – schuldig oder unschuldig – überhaupt zuließ, mit fatalen Folgen für den einzelnen, Folgen, die letztlich über Leben oder Tod entscheiden konnten.
    Wo war ich hier hingeraten? Ich blickte immer noch auf die leeren Gänge, die sich vor mir auftaten und mir ihrerseits jegliche Antwort schuldig blieben, wie ein innerer Spiegel, in den ich vergeblich starrte. Meine Gedanken ratterten wie ein losgelassener Automat und wiederholten in einer Endlosschleife immer wieder den einzig zulässigen Urteilsspruch: Schuldig! Schuldig! Schuldig!
    Beim Besuch eines Zuchthauses, wohin ich einige Male zu literarischen Veranstaltungen eingeladen worden war, hatten mich ähnliche Empfindungen heimgesucht. Nun stand ich im Ziviljustizgebäude, wie es in Klammern auf der Dispo hieß, und hatte mein kurzfristiges Déjà-vu , jedoch keins, das mir in irgendeiner Weise weiterhalf.
    Ich fühlte mich fremd in einer vertrauten Umgebung. Zumindest war ich bis zu dieser Stelle schon einmal vorgedrungen, diesem Ort, wo ich mich vor die Wahl gestellt sah, einen der Gänge zu betreten, um meinen Rückweg erfolgreich fortzusetzen.
    Mit Sicherheit war ich schon einmal hier gewesen, nur in umgekehrter Richtung, und zwar in diesem, nicht in einem vorigen Leben. Ich war kein Widergänger, kein Reinkarnationsopfer, sondern ein normal verwirrter Mensch, der sich in einem riesigen Gebäudekomplex verlaufen hatte. So etwas kam vor. Aber musste es gerade mir und zu diesem Zeitpunkt passieren?
    Der Schauspieler, der den Richter spielt, findet die Crew nicht. Jetzt irrt er irgendwo im Gebäude herum ...
    Inzwischen stimmte der Satz mehr, als mir lieb war.
    Ich fragte mich, wozu solche riesigen Häuser überhaupt gebaut wurden, wenn nicht aus dem einzigen Grund, die Menschen in Konfusion zu stoßen, in ein emotionales und gedankliches Chaos, mit der deutlichen Absicht, sie für neue, möglicherweise schädliche oder gar selbstzerstörerische Ziele gefügig zu machen. Die Erbauer solcher Gebäude verfolgten einen Zweck mit dieser einschüchternden, Angst einflößenden Architektur, einen Zweck, der außerhalb der Interessen ihrer Bewohner oder Besucher lag. Ob die Twin-Tower in New York, der alte Turmbau zu Babel, oder eben dieses Amtsgerichtsgebäude in Hamburg – mir als geborenem Landei, erschienen die Unterschiede gering. Was hatte ich überhaupt in dieser Stadt verloren?
    Manchem Zeitgenossen genügte schon der heimische Supermarkt, um sich zu verlaufen. Und auch das hatte Methode. Der Irrsinn war gewollt! All diese Gebäude waren nicht erstellt worden, um das Leben für den Einzelnen zu vereinfachen, sondern um ihn einer

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