STYX - Fluss der Toten (German Edition)
geströmt.
Warum auch nicht? Schließlich war ja Mittagszeit.
Halbherzig ging ich auf eine gerade eintreffende, kleinere Gruppe zu und stellte die mir schon lächerlich vorkommende Frage nach der Filmcrew oder möglichen Dreharbeiten. Bestenfalls erntete ich ein interessiertes Staunen.
Wo war ich hier hingeraten? Wollte mich jemand für dumm verkaufen? Das konnte doch nicht angehen, dass ein professionelles Team, dessen Produktionen regelmäßig zur besten Sendezeit, und zwar nicht in irgend einem Kuschelsender, sondern dem ersten staatlichen Sender im Lande ausgestrahlt wurden, dass so ein Team und dessen Produktionsstab es nicht für nötig hielten (oder es einfach nicht auf die Reihe bekamen), einen Schauspieler dort hinzubestellen, wo er benötigt wurde.
Ich fühlte mich gedemütigt – verraten und verkauft! Wenn ich mich hätte entscheiden dürfen, zwischen Wut und Enttäuschung, ich glaube, ich hätte ersteres gewählt. Doch wohin mit meinen Emotionen? Es gab keinen Ansprechpartner, der nur ansatzweise zuständig gewesen wäre. Vorwiegend leere Gänge und eine Cafeteria wie von einem andern Stern. Alle Menschen, mit denen ich bislang in diesem Gebäude gesprochen hatte, sahen mich auf meine Fragen hin an, als käme ich von einem fremden Planeten. Gab es mich überhaupt? War ich mir selbst zur Illusion geworden?
Eine amüsante Frage, aber nicht einmal darauf erhielt ich eine Antwort. Von wem auch? Ich war in diesem Umkreis ein komplett Fremder, mit falschem Anliegen, falschem Berufsbild, falscher Identität. War ich etwa selbst derjenige, der etwas nicht auf die Reihe bekam?
Spätestens in diesem Moment vermisste ich mein Handy, über dessen massenhaften Gebrauch ich mich ansonsten eher lustig machte. Ich hätte wenigstens versuchen können, die Assistentin zu erreichen, immerhin eine Person, die mich für real hielt. Aber war sie überhaupt real?
Ich kapierte allmählich, wie Paranoia entsteht, sich auszubreiten beginnt – in wessen Interesse auch immer. Es fängt ganz harmlos an. Ein Mensch wird an einen Ort bestellt. Und dann gibt man ihm das Gefühl, dass seine Anwesenheit weder erwartet wird, noch sonderlich erwünscht ist. Ja, es scheint eher so, als ob seine Gegenwart als unpassend, beinah störend empfunden wird.
Mir kam das Grauen, wenn ich mir vorstellte, wie vielen Menschen es in ihrem Leben genau so erging, oder, was auf dasselbe hinauslief, wer nicht alles auf einem der üblichen Abstellgleise versauerte – in der Schule, beim Militär, im Beruf oder im Privatleben. Ich bekam einen Eindruck davon, was Fremdsein bedeutete, und was für zerstörerische Kräfte durch diesen entwürdigenden Zustand entwickelt wurden. Das Gefühl der Isolation konnte einen Menschen leicht in den Irrsinn treiben. Ich kam mir jedenfalls jetzt schon wie der letzte Idiot vor.
Der Wahnsinn richtete sich jedoch nicht nur gegen die eigene Person, sondern trug ständig die Tendenz zum öffentlichen Ausbruch in sich. Der Mensch war eine wandelnde Zeitbombe, die tickte. Und manchmal tickte sie unregelmäßig, also nicht ganz richtig und wurde unberechenbar. Wut konnte jederzeit in Enttäuschung umschlagen, Enttäuschung in neue Wut und Gewaltbereitschaft. Dann bedurfte es nur noch gewisser dunkler Mächte, die sich solcher Menschen annahmen. Sie gaben den Leuten das Gefühl, dringend gebraucht zu werden, und schon verwandelte sich ein an sich harmloser, lediglich etwas irritiert und hilflos dastehender Mensch in einen Fanatiker oder Terroristen.
War erst einmal das Grundvertrauen in diese Welt zerstört – etwa durch eine kleine, aber wichtig erscheinende Verabredung, die nicht eingehalten wurde – genügte schon ein winziger Anstoß, und die Fahrt in den Abgrund war programmiert, erfolgte so reibungslos, wie vielleicht nichts zuvor im Leben dieses Menschen. All die guten Anlagen, die jeder in sich barg, waren im Handumdrehen zum Teufel! Zerstörung hieße die Ultima Ratio in einer Welt, in der das Gefühl der Zugehörigkeit und des Geborgenseins abhanden gekommen war: Eine wahrhaft verrückte Welt!
Ich beschloss, mich auf den Rückweg zu machen; zurück zur Auskunft, zur Frau hinter dem Tresen. Dort hatte das Missverständnis begonnen – dort erhoffte ich mir das Ende meiner momentanen Verwirrung.
Noch ging ich nicht so weit, meine gesamte Existenz in Frage zu stellen. Dazu war jetzt keine Zeit, obwohl der Ort, ein Gerichtsgebäude, nicht völlig ungeeignet dafür schien. Aber ich hatte ja eine Aufgabe, so
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