STYX - Fluss der Toten (German Edition)
Gehirnwäsche zu unterziehen, ihn leichter handhabbar zu machen. Seine Verstörung wurde nicht in Kauf genommen, sondern war erklärtes Ziel und diente dazu, ihn zusammen mit all den anderen verlassenen Seelen unter einen Hut zu bekommen, in Massen zu bündeln, Massen, die sonst aus dem Ruder zu laufen drohten. Oder so ähnlich.
Der einzelne Mensch wurde kompatibel gemacht, sei es für staatliche Instanzen, einige wenige, private Nutznießer oder multinationale Konzerne und Organisationen von derart dubioser Herkunft, dass selbst deren leitende Angestellte nur bruchstückhaft informiert und eingeweiht waren. Tote Seelen, sonst nichts!
All diese Gebäude, die mit immensem finanziellen Aufwand errichtet worden waren, trugen letztlich dazu bei – neben der Regulierung von Geldströmen –, dass eine mehr oder weniger anonyme Macht sich ausbreiten und vervielfältigen konnte. Je geringer der tatsächliche Wert des einzelnen Menschen – kleingemacht, nicht zuletzt durch architektonische Überrumpelungstaktiken –, umso besser für die Aufrechterhaltung einer zumeist namenlosen, mit Vorliebe im Verborgenen wirkenden Macht. Es hätte nicht viel gefehlt, und ich wäre bewusstlos zu Boden gesunken, einer wahrhaftigen Ohnmacht nahe.
Ich stand immer noch ratlos vor diesem Labyrinth, das mich stumm anglotzte; mich, dieses fremde Wesen, das sich beinah bewegungsunfähig vor die Wahl gestellt sah, sich einem dieser Gänge zu nähern, um endlich seinen Rückweg fortzusetzen.
In meinem Kopf machte sich eine Leere breit, ein Stillstand jeglicher Gedankenflüsse, ähnlich jenem Bild, dass sich einstellt, wenn drehende Räder auf einer Kinoleinwand die Geschwindigkeit des Aufnahmeapparats überschreiten. Die Räder scheinen für einen Moment in Bewegungslosigkeit zu verharren. Das Tempo der Rotation schlägt ins Gegenteil um – in absolute Ruhe.
Das ist immer wieder faszinierend zu beobachten, vielleicht weil es einem die Relativität aller irdischen Begriffe unmittelbar vor Augen führt. Technisch ist dieser Vorgang vergleichsweise einfach zu erklären, dennoch ist seine Wirkung auf das Auge des Betrachters immer wieder erstaunlich. Die Bilder scheinen zu verschwimmen, verschmelzen zu einer Art sichtbarem Brei. Die Trägheit des Auges lässt keine schnellere Wahrnehmung zu, was wiederum den Vorteil hat, dass der Zuschauer den Film überhaupt als Ereignis von fließenden Bewegungen wahrnimmt und nicht die einzelnen Bilder, aus denen der Film in Wirklichkeit zusammengesetzt ist.
Trägheit muss also durchaus kein Nachteil sein, sondern bietet zuweilen nicht zu unterschätzende Vorzüge. Doch diese Erkenntnis brachte mich jetzt auch nicht weiter. Welcher Spur sollte ich folgen, um mich zum Ausgangspunkt meines Irrwegs zurückzubringen? Wo war das Startfeld mit der Aufschrift: Los!?
Niemand half mir auf die Sprünge. Nachdem ich den Fahrstuhl im Erdgeschoss verlassen hatte, befand ich mich wie Dante im finsteren Wald. Meine Gedanken stachen mir wie Dornen in die Seele und erfüllten mich mit infernalischem Grauen. Auch ich wusste nicht zu vermelden, wie ich dieses Gebäude betreten hatte – halb noch als Schlafwandler wohl – und wie es geschehen konnte, dass ich vom Wege abkam. Träumte ich etwa immer noch? Und gab es niemand, der mich von der alptraumhaften Furcht befreite, für den Rest meines Lebens in diesen unwirtlichen Gängen ausharren zu müssen, wie ein Maulwurf, geblendet vom Licht meiner finstersten Ahnungen?
Ich bewegte mich ein paar Schritte auf einen der Gänge zu, Rat suchend Umschau haltend. Niemand da. Keine Spur von irgendjemand. Noch ein paar Schritte – zögerlich setzte ich meine Füße voreinander, trat wie auf eine unsichtbare Wand zu, hinter der ich womöglich endgültig verschwinden würde. Ich sah mich um und erkannte nichts wieder. Nicht der Hauch einer Erinnerung stellte sich ein, diesen Weg schon einmal gegangen zu sein.
Immerhin befand sich der Fahrstuhl noch an seinem vorherigen Platz. Vorausgesetzt, dass es derselbe Fahrstuhl war, wovon ich jedoch ausging. Er diente mir jetzt als Orientierungspunkt, als Leuchtfeuer in einem Meer der Ungewissheit. Die Bedeutung des Satzes »Er geriet ins Schwimmen« stand mir nie klarer vor Augen. Jegliche Sicherheit – welche Sicherheit? – war mir abhanden gekommen.
Ich war nie ein guter Schwimmer gewesen. Die Flut der Bilder, die auf mich einströmte, raubte mir den Atem. Ich paddelte um mein Leben, mein erbärmliches, kleines Leben. Jeder Hilfeschrei
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