STYX - Fluss der Toten (German Edition)
Assistentin, die ich schon vom Vortag her kannte, reichte mir meine Richterrobe, so dass auch ich mit meiner Einkleidung beginnen konnte, ohne lange herumstehen zu müssen. Zuvor stellte ich meinen Schirm beiseite und zog mich aus. Die Schuhe, die ich tragen sollte, hatte ich schon ausfindig gemacht, ebenso einen langen Schuhanzieher, den ich aus Bequemlichkeitsgründen gern benutzte.
Unterdessen betrat ein weiterer Schauspieler den enger werdenden Raum, reichte jedem der Anwesenden freundlich die Hand, ehe er sich in eigener Sache an meine Assistentin wandte.
Was war ich nur für ein Idiot gewesen! Lag es an der fortwährenden Verwirrung, von der ich mich noch immer nicht erholt zu haben schien, dass ich die einfachsten Regeln der Höflichkeit missachtet hatte?
Danach ergab sich ein winziges Gespräch mit dem Neuankömmling. Ich fand Gelegenheit, von meiner vorherigen Konfusion zu berichten, was ihn zu der höflichen Frage veranlasste: »Und wie haben Sie dann hergefunden?«
»Kommissar Zufall«, entfuhr es mir.
Nachdem ich drehfertig eingekleidet war, bat ich den Zeitung lesenden Schauspieler mir einige Blätter abzugeben, die er bereits auf dem Stuhl neben sich abgelegt hatte. Freundlich reichte er mir das Feuilleton mit einem ausführlichen Artikel anlässlich der Jubiläumsfeiern zu Kafkas Geburtstag.
Ausgerechnet! dachte ich.
Und auf einmal war ich mir nicht mehr sicher, ob die Personen um mich herum so wirklich waren, wie das Gebäude, in dem ich mich befand. Was, wenn ich von Schattenwesen umgeben war, die mir nur vorgaukelten, Mitglieder eines Fernsehteams zu sein. Hatte ich unmerklich – etwa mit dem Betreten des Fahrstuhls – eine Schwelle überschritten, die mich von der realen Welt abschied, ohne dass ich es noch bemerkte? Gab es mich überhaupt noch?
Eine schleichende Panik überkam mich, die auch nicht aufhörte, als ein mir unbekannter, junger Mann – Inspizient oder dergleichen – knapp die Tür öffnend seinen Kopf hereinstreckte, meinen Namen rief und mich zum Drehort bat: Ohne Kostüm und Maske! Der Regisseur habe darum gebeten.
Ich fühlte mich plötzlich nackt und hilflos – wie ein eben erst geborener Säugling. Im Innern pochte mein Herz und hämmerte gegen die Brustwand, als wolle es mich in Stücke reißen. Das war kein gewöhnliches Lampenfieber, das war das pure Entsetzen.
Wo war ich um Himmels willen hingeraten?
Was tat ich hier?
Das letzte Geschenk
Emil Berel
Es ist eine kalte Nacht und ein rauer, unangenehmer Wind weht durch die kahlen Bäume. Eine junge Frau steht alleine neben der engen Straße, die sich durch den Wald schlängelt, und starrt auf das schwarze Wasser des Flusses vor sich.
Sie ist schon einmal an diesem Ort gewesen. Da ist sie sich sicher. Aber ... nein. Irgendetwas ist anders.
Sie blickt nach oben: kein Mond und kein einziger Stern.
Aber noch etwas ist anders. Schnee. Es liegt kein Schnee. Die Erde unter ihren Füßen ist hart und kahl. Das letzte Mal war hier Schnee. Jetzt ist hier nur der trockene Boden.
Irgendetwas zieht sie unerklärlicherweise in Richtung des Flusses, also geht sie weiter zum Ufer und lauscht in Erwartung irgendeines Geräusches, doch es ist nichts zu hören. Nicht einmal das Wasser scheint zu rauschen. Sie taucht ihre Hand ins Wasser und sofort durchdringt ein scharfer Schmerz ihren Arm, als würde jeder Nerv, jede Sehne zerreißen. Das Wasser ist nicht kalt, nicht einmal nass, es ist nur reiner Schmerz. Erschrocken zieht sie ihre Hand zurück und stolpert nach hinten.
*
»Sie können hier nicht schwimmen«, sagt plötzlich eine ruhige, aber bestimmte Stimme einige Meter von ihr entfernt. Sie streicht sich ihre schwarzen Haare aus dem Gesicht und sieht eine große Gestalt in einem Umhang neben dem Fluss stehen.
»Wie bitte? Wieso sollte ich schwimmen wollen?«, fragt sie.
Die Gestalt antwortet: »Wenn Sie über den Fluss wollen, müssen Sie die Fähre nehmen.«
Die Frau richtet sich auf und geht langsam auf den Mann zu. Er ist alt, sehr alt, mit tiefen Furchen im Gesicht, doch er steht aufrecht und kräftig auf der Straße. Hinter ihm sieht sie nun eine rostige, alte Autofähre im Wasser. Sollte hier nicht eine Brücke stehen? Sie weiß noch, wie sie mit dem starken Akzent der Menschen hier zu kämpfen hatte. Aber dieser Mann spricht Deutsch mit ihr. Mitten in ...
*
Jetzt fällt es ihr wieder ein. Jetzt weiß sie, woher sie diesen Ort kennt: Sie war hier im Urlaub vor ein paar Jahren. Ein Wald in der Nähe von Kiruna,
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