Suche nicht die Suende
Miene eine absolute Ausdruckslosigkeit annahm.
Die Veränderung war so krass, dass ein Hauch von Neugier Gwens Wut durchbrach. Sie drehte sich um und folgte seinem Blick. Er schaute auf die junge Frau in dem tief ausgeschnittenen blauen Kleid. Sie hatte inzwischen ein neues Objekt für ihre Aufmerksamkeiten gefunden – einen gut aussehenden blonden Mann in einem hervorragend geschnittenen Frack. Er und seine Begleiter hatten sie zum Kichern gebracht, während er mit der Spitze seines Spazierstocks über ihre Rocksäume strich.
»Warte hier eine Minute«, sagte Alex. Und dann fügte er mit einem harten Blick hinzu: »Ich meine es ernst. Rühr dich nicht von diesem Stuhl.«
Ohne weitere Erklärung stand er auf und ging davon.
Ungläubig sah Gwen ihm nach. Er ging gezielt auf den blonden Mann zu. Kurz bevor er bei ihm war, hinderten ihn die Begleiter des Mannes am Weitergehen. Jetzt redeten sie mit Alex. Inzwischen hatte der Blonde den Arm des Mädchens ergriffen und ging mit ihr an der Gruppe vorbei. Sie kamen in Gwens Richtung.
Alex folgte dem Paar. Wieder verstellten ihm die anderen Männer den Weg. Einer von ihnen zeigte auf das Innere des Gebäudes. Nach einem sichtlichen Zögern und einem kurzen, undeutbaren Blick auf Gwen wandte sich Alex ab und folgte den Männern.
Er brachte sie hierher und ließ sie dann allein?
Aufgeregt schaute sich Gwen um. Allein im Moulin Rouge! Inmitten all dieser Menschen!
Sie reckte das Kinn und starrte auf den Elefanten. Es würde ihr nichts geschehen. Eigentlich brauchte sie weder Alex’ Begleitung noch die von jemand anderem. Sie konnte sehr gut allein zurechtkommen.
Die Augen des Elefanten blickten sie traurig an. Warum hatte sich der Künstler entschieden, ihm dieses Aussehen zu geben? Seine großen, dunklen Augen richteten sich wehmütig auf einen Punkt in der Ferne, während er die Possen von dummen Jungen ertrug, die in seinen Bauch stiegen und wieder herauskamen. Diese arme, stumme Kreatur! Sie sah so resigniert aus. Und so einsam.
Eine Welle unendlichen Mitleids stieg in Gwen hoch. Tränen, die
mehr
als dumm zu sein schienen, sprangen ihr in die Augen; ungeduldig presste sie die Fingerspitzen auf die Augenlider. Welch Unsinn. Es war doch nur eine Figur. Diese Augen und der Ausdruck darin, all dies war das Werk eines sehr begabten Künstlers.
Dennoch fühlte sich ganz plötzlich irgendetwas an dem Anblick unerträglich an. Der Knoten in ihrem Hals wurde fester. Sie stand auf, sie wollte Alex folgen oder gehen und sich selbst eine Droschke rufen und –
– als sie sich umwandte, prallte sie direkt gegen den blonden Mann, dem Alex sich zu nähern versucht hatte. Das Mädchen im blauen Kleid hing an seinem Arm und warf Gwen einen feindseligen Blick zu, aber der Gentleman blieb sofort stehen und deutete eine kurze Verbeugung an. »Verzeihung, Mademoiselle«, sagte er auf Englisch. »Ich hatte Sie nicht gesehen.«
»Nein, nein, es war meine Schuld«, sagte Gwen. Sie hätte erkennen müssen, dass er ein Landsmann war. Er hatte das rotwangige, gesunde Aussehen, das davon zeugte, dass er viel Zeit auf den Sportplätzen elitärer Internatsschulen verbracht hatte, und von Sommern, in denen man mit einer Meute Hunde im Schlepptau durch die freie Natur streifte. »Bitte nehmen Sie meine Entschuldigung an, Sir.«
Seine Augenbraue zog sich hoch. Vielleicht verwirrte ihn ihr Akzent. Man erwartete nicht, einen so vornehmen Akzent von einer Frau ohne Begleitung zu hören – zumindest nicht an diesem Ort.
Diese Erkenntnis belebte Gwens Zorn neu. Ihre Hand schloss sich instinktiv um ihre Handfläche, als die Erinnerung an zahllose schmerzhafte Hiebe mit dem Lineal in ihr aufstieg.
Wir sagen nicht »nee«, Miss Gwendolyn. Wir sagen »nein«.
Herrje
, dachte Gwen,
ich bin ein abgerichteter, sprechender Hund gewesen.
Kein Wunder, dass Alex sie verachtete. Ihr ganzes Leben lang hatte sie das getan, was man ihr gesagt hatte, und wenn sie nach Aufmerksamkeit gekläfft hatte, so hatte es nur eines Wortes bedurft, und sie hatte gehorsam gekuscht.
»Vielleicht können Sie mir eine Auskunft geben«, sagte der Gentleman, »da meine Begleiterin kein Englisch zu verstehen scheint.« Er warf einen Blick auf besagte Begleiterin, während er mit einem Lächeln ihren Ellbogen losließ und ihren sofortigen Protest ignorierte. »Sollte es heute Abend nicht auch Gesangsdarbietungen geben?«
Gwen fühlte den finsteren Blick des Mädchens wie einen heißen Druck auf ihrer Wange. »Ja, aber erst
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