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unternommen haben, warum steht dann sein Schneescooter vor dem Reihenhaus und sein Wagen an der Seilbahnzentrale?«
Es war erst einige Jahre her, seit die Store Norske beschlossen hatte, dass die Kohle aus den Stollen nicht mehr mit Loren transportiert werden sollte, die hoch über der Erde an Seilbahnen kreuz und quer über den Häusern hingen. Stattdessen wurden jetzt Lastwagen benutzt, die zum Löschkai fuhren. Die Entscheidung hatte weitreichende Bedeutung. Der größte Teil der Bergwerksleitung war in einer vom Kohlebergwerk geprägten Ortschaft im Schatten der riesigen Holzpfähle aufgewachsen, die die Drahtseile hielten. Das Geräusch der großen Metallhaken, die an den Drähten entlangrutschten, der Klang der Loren, die an den Wendepunkten weitergeleitet wurden, das Poltern, wenn sie ihr Ziel erreicht hatten, und der Kohlenstaub, der über die Stadt fegte und den Schnee unter den Seilbahntrassen verrußte. Solange die Seilbahn lief, wusste man genau, welcher Wochentag war. An den Sonntagen standen die Loren aus Respekt vor dem Gottesdienst einige Stunden still.
Die Drahtseilbahnzentrale lag auf Skjæringa, hoch über dem Verwaltungsgebäude – ein gigantisches Bauwerk, oder eher gesagt, eine riesige Maschine. Es erhob sich an seiner höchsten Stelle mehr als zwanzig Meter über die Erde wie eine Art wahnsinnige, fremdartige Konstruktion auf hohen Insektenbeinen und mit jeder Menge Stahldrähten, die in alle Richtungen über die Stadt liefen, wie ein riesiges Spinnennetz. Die Loren konnten jeweils siebenhundert Kilo Kohle aufnehmen, und die Seilbahn konnte vierhundert Loren am Tag zu den Kohlehalden unten am Hotellneset befördern.
Doch dann wurden die alten Stollen geschlossen, einer nach dem anderen. Zeche 1, der alte Amerikanerstollen, der bereits 1906 von John Longyear geöffnet und 1916 von Store Norske übernommen worden war. 1920 hatte eine Kohlenstaubexplosion hier Teile von Longyearbyen in einem gewaltigen Lichtblitz aus dem Stollenmund erhellt. Natürlich wurde sie danach geschlossen. Eine Zeche, die 26 Mann an einem einzigen Tag in den Tod schickte, war zu gefährlich. Eine Zeche, die alle zum Teufel wünschten, hatte sie ihnen doch so viele Probleme und dabei so wenig Kohle beschert. Aber trotz allem war das die Grundlage für die Store Norske Kohlekompagnie.
Mit der Zeit wurde der Kohleabbau erweitert, und die Anlagen über Tage wuchsen an den steilen Berghängen. Heute war nicht mehr viel von ihnen übrig. Nur die gespenstigen, fast unwirklichen Konstruktionen zusammengefallener Hölzer waren hoch über der Stadt zu sehen. Dunkle Gehäuse für Ängste, die schon vor langer Zeit zusammen mit den Menschen, die an sie glaubten, weitergezogen waren.
Nach einer Weile gab es nur noch Zeche 7, die in Betrieb war, und die Entfernung vom Platåfjell ganz hinunter bis zur alten Seilbahnzentrale war zu lang und unpraktisch für die Beförderung per Seilbahn. Es lohnte sich nicht mehr, das alte Transportsystem aufrechtzuerhalten.
Die Bewohner von Longyearbyen hatten so manche Nacht das Poltern der Loren verflucht, die über ihren Köpfen entlangzogen. Doch als die letzte Lore sicher wieder an der Seilbahnzentrale angekommen war und für ungewisse Zeit weggehängt und verstaut worden war, da war es so unheimlich still geworden. Und noch lange nachdem das metallische Quietschen vergessen war, erinnerte die Stille des Nachts die Menschen an einen Verlust, über den sie nicht offen sprachen. Das ist der Lauf der Zeit, sagten sie sich gegenseitig mit trauriger Miene, Longyearbyen ist eben nicht mehr in erster Linie eine Bergwerksstadt.
Bei Store Norske hatten sie nicht das Herz, die alte, treue Seilbahnzentrale abzureißen, über die sie vorher so oft geflucht hatten. Im Kontrollraum, dort, wo die Weichen für die Loren gestellt wurden, wurde den ganzen Winter hindurch weiterhin geheizt. Und ab und zu konnten Passanten, die zufällig vorbeikamen, ein Licht hinter den Fenstern dort hoch oben erahnen. Zwar wussten die Zuständigen bei Store Norske, dass es sich nur um eine Schreibtischlampe auf einem Schreibtisch im Kontrollraum handelte. Trotzdem sah es so aus, als stünde das Gebäude dort ruhig in der Kälte und Winterdunkelheit und wartete.
Tom Andreassen und Erik Hanseid nahmen das Fahrzeug mit dem Vierradantrieb. Der Weg hinauf zur Seilbahnzentrale wurde den ganzen Winter über vom Schneepflug freigehalten. Doch vor einem verlassenen Lagergebäude, das sich ein Stück unterhalb der Weichenstation
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